von Karen Naundorf
und Stephan Pramme (Fotos)
Mittags, wenn der Geruch von gebratenem Gemüse über der Straße schwebt, ist es besonders laut im chinesischen Viertel. Irgendwo wartet immer ein Lkw, der einen Asia-Supermarkt beliefert, Taxis hupen ungeduldig. Männer in Anzügen eilen in die Restaurants mit den bunten Drachenfiguren am Eingang. Ein paar Meter weiter, im nächsten Häuserblock, wird das Viertel zur Wohngegend. Nahtlos fügt sich das Gebäude der Gemeinde Amijai in die Häuserreihe ein. Die Fassade ist nüchtern: Beton, wenige Fenster, schützende Betonpfosten auf dem Gehsteig. »Haben Sie einen Termin?« fragt der Wachmann. »Ja, mit Architekt Penedo.«
Als sich die schwere Metalltür schließt, wird es still. Vor dem Besucher liegt ein großer Garten. Darin Skulpturen, meterhohe Papyrusstauden und mittendrin die Synagoge. Ein Betonbau, dessen breite Vorderseite von einer schweren Holztür geprägt wird, auf der sich geschmiedete Ornamente aneinanderreihen. Seltsam gebückt liegt das Gebäude auf dem Grundstück. »Von oben sieht es aus wie eine Computermaus«, sagt ein großer Mann mit kurzen grauen Haaren, die sich schon am Ansatz widerspenstig locken. Seine Hände ruhen in den Taschen eines weiten beigen Trenchcoats. »Bienvenido, ich bin Penedo.«
Keiner kennt die Gebäude der Amijai so gut wie Augusto Penedo. Die nüchternen Formen des zweistöckigen Gemeindezentrums, die ungewöhnlichen Winkel der Synagoge hinten im Garten – sie existierten zuerst in seinem Kopf, dann auf dem Papier und jetzt in der Straße Arribeños. Die Amijai ist eine junge Gemeinde, sie wurde erst 1993 gegründet und hatte keine eigenen Räume, bis das Gebäude am Rand des Barrio Chino eingeweiht wurde.
Das Architekturbüro Urgell-Penedo-Urgell bekam den Auftrag, weil Augusto Penedo in dem Ruf steht, ein Gespür für religiöse Bauten zu haben. Er plante schon die Kapelle der katholischen Universität. Und fast hätte er im letzten Jahr den Auftrag bekommen, ein Hare-Krischna-Zentrum zu bauen. »Bei der Einweihung der Synagoge haben alle geweint. Ich mag das Gebäude sehr, aber ich bin hier selten«, sagt Penedo, als wir das Gebäude betreten. Er zeigt auf ein schmales, langes Fenster, das sich in die verwinkelten Formen des Gießbetons einfügt. »Schauen Sie, wie das Licht da drüben einfällt.« Penedo setzt sich in die letzte Reihe der hellbraunen Parkettsitze, die auch in einem Kino stehen könnten. Beiläufig streicht seine Hand über die marmorierten Bodenfliesen. »Der Stein kommt aus Brasilien«, sagt er.
Die Planungen für das Gemeindezentrum der Amijai begannen im Jahr 2002. Argentinien steckte damals mitten in einer Wirtschaftskrise. Es war ein ungewöhnlicher Moment für den Bau eines Großprojektes, das fünf Millionen US-Dollar kosten würde. Dank einer Spende konnte die Amijai ihr erstes eigenes Gemeindezentrum errichten, während andere jüdische Gemeinden schließen mußten, weil das Geld fehlte oder weil die Mitglieder das Land verließen, um ihre Zukunft in einem anderen Land zu suchen.
»Die Abstände zwischen den Holzplanken sind unterschiedlich groß«, erklärt Penedo und zeigt auf die Wand. »Das ist wegen der Akustik.« Daß die Synagoge eine außergewöhnlich gute Akustik hatte, bemerkte Penedo durch Zufall. Die Zimmermänner waren gerade dabei, die Deckenvertäfelung anzubringen. Er kam in den Raum, hörte klassische Musik und fragte sich, wo sie herkam. »Ich suchte die Musiker. Und dann sah ich, daß da dieses kleine, batteriebetriebene Radio stand. Mir war klar, daß wir daraus etwas machen mußten«, sagt Penedo.
Er achtete aufs kleinste Detail. »Es heißt, daß die Synagoge der Amijai die zweitbeste Akustik in ganz Buenos Aires hat«, sagt der Architekt. Die beste hat das berühmte Teatro Colón, das Opernhaus an der Straße 9 de Julio – die angeblich breiteste Straße der Welt. Einer der musikalischen Leiter des Teatro Colón ist inzwischen in der Amijai für das musikalische Programm zuständig.
»Ich muß wieder öfter kommen. Mal sehen, welche Konzerte in diesem Monat auf dem Programm stehen.« Für Aufführungen wird die Bimah zur Bühne. Hinter der Rückwand steht eine Holzkonstruktion bereit, die eine Plattform für die Musiker bildet. Der Aron HaKodesh wird mit braunem Stoff überdeckt. Dann zeigen nur noch die Inschriften die eigentliche Bestimmung des Raumes: In die Decke sind hebräische Schriftzüge wie »Weahawta lereaha kamoha«, liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, geschnitzt. Wenn die Zwischenwand, die im Alltag Synagoge und Eingangshalle trennt, zur Seite geschoben wird, gibt es etwa 800 Sitzplätze.
Penedo geht voran in das zweistöckige Gemeindehaus, das an der Straße liegt. Hier organisiert die Gemeinde Filmabende mit Diskussionsrunden. Diese Woche ist Woody Allens Verbrechen und andere Kleinigkeiten dran. Montags gibt es ein Tutorium für Existenzgründer – eine der Teilnehmerinnen ist eine Frau, die ihre selbstgestrick-ten Pullover verkaufen will und einen Katalog entwerfen möchte. Im Erdgeschoß ist die Cafeteria, in der es freitags Challah zu kaufen gibt.
Es ist still in der Amijai. Nichts deutet darauf hin, daß gleich um die Ecke das wuselige Barrio Chino liegt. Doch daß man in Argentinien ist, wird spätestens klar, wenn man auf das Dach des Gemeindehauses steigt. Dort hat Penedo auf Wunsch des Rabbiners einen Fußballplatz eingeplant. Mit Flutlicht, so daß die Kinder auch abends nach dem Hebräisch-Kurs noch eine Runde bolzen können.