Die Zuhörer staunen als zum Vortrag von Peter Guttkuhn »Der Eintritt der Juden in das Lübecker Bürgertum« ein Mann in der traditionellen Kleidung orthodoxer Juden, mit schwarzem Anzug, weißem Hemd, einem breitkrempigen schwarzen Hut und einem langen, schon von ersten grauen Strähnen durchzogenen Bart erscheint. Orthodoxe Juden sind selten in der Hansestadt. Der Rabbiner ist zum ersten Mal aus Montreal nach Lübeck in die Stadt seiner Vorfahren gekommen. Gelassen setzt sich der Gast mit seinem Dolmetscher in die erste Reihe. Deutsch hat der 1962 in Montreal geborene Carlebach nicht gelernt, aber Jiddisch.
Gespannt wartet er darauf, was der Referent über seine Familie berichtet. Doch im Vordergrund steht die Geschichte der Familien Meier und Mühsam, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Lübeck gekommen waren. So unternimmt Emanuel Carlebach denn auf eigene Faust eine Spurensuche. Am Morgen des Vortrags war er schon zum jüdischen Friedhof in Moisling gefahren. Nur wenige Besucher kommen dorthin, so dass sich Carlebach erst den Schlüssel von einem Beamten der örtlichen Polizeistation aushändigen lassen muss, bevor er die Gräber seiner Urgroßeltern Salomon und Esther Carlebach sowie die von deren Söhnen Alexander und David besuchen kann.
Bei den Wirkungsstätten und Wohnungen von Vater, Onkel und Großvater setzt Emanuel Carlebach seine Spurensuche fort und besucht das ehemalige Wohnhaus seines Großvaters, des bekannten Lübe- cker Bankiers Simson Carlebach in der Sophienstraße 10. Die Familie wohnte dort, bis sie 1940 von den Nazis gezwungen wurde, ins Jüdische Altersheim umzuziehen. Später erwarb der Kaufhausbesitzer Salman Schocken aus Chemnitz das Haus und richtete darin eine Ausbildungsstätte ein, die junge Juden auf die Übersiedlung nach Palästina (Hachschara) vorbereitete. Bereits kurze Zeit später enteigneten Nationalsozialisten das Haus. Simson Carlebach wurde 1941 nach Riga deportiert und bei der Ankunft noch auf dem Bahnhof erschossen.
Alles scheint Emanuel Carlebach an diesem Haus und Garten seines Großvaters zu interessieren, sogar die Toilette im Keller. Zur Zeit Simson Carlebachs die einzige im Haus. Und siehe da, die Ärztin, die heute im Parterre des Hauses ihre Praxis hat, kann ihm das Örtchen zeigen.
Zum Abschluss seiner Erkundungen besucht Emanuel Carlebach die Synagoge in der St.-Annen-Straße. Hier will er wissen, wann die Kuppel und die einst prächtige maurische Fassade zerstört wurden und läßt sich die Wohnung über der Synagoge zeigen, in der sein Onkel bis zu seiner Emigration im Jahre 1939 gewohnt hatte. 1987 wurde Felix Carlebach zum Ehrenbürger Lübecks ernannt. Als begabter Musiker, der in seiner Jugend an der Musikhochschule Köln auch Klavier und Dirigieren studiert hatte, sei er begeistert gewesen, als man ihn bei seinem Besuch in seiner Heimatstadt einlud, im Lübecker Kolosseum ein Konzert des Hochschulorchesters zu dirigieren, erzählt sein Neffe stolz und scheint ähnlich begeistert wie sein Onkel. Marlies Bilz-Leonhardt
Emanuel Carlebach