von Matthias Maus
Hildegard Hamm-Brücher ist im Mai 85 Jahre alt geworden. Das Publikum kann sie noch immer mitreißen. Vor gut zehn Jahren wurde die Grande Dame als erste Frau mit der Ehrenbürgerwürde der Stadt München ausgezeichnet. An dem Abend, an dem sie auf Einladung der Literaturhandlung und der B’nai-B’rith-Loge im Saal des Alten Rathauses mit Oberbürgermeister Christian Ude und Professor Norbert Frei Rückschau hielt auf 50 Jahre, in denen sie aktiv an der Politik mitwirkte, war auch die zweite Münchner Ehrenbürgerin unter den Anwesenden, IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch. Hildegard Hamm-Brücher stellte an diesem Abend ihr neues Buch vor: In guter Verfassung? Es ist im Verlag C.H. Beck erschienen
»Mädle, Sie müsset in die Politik«, habe ihr Mentor, der damalige Bundespräsident Theodor Heuß, der jungen Hildegard Hamm-Brücher immer wieder gesagt. Er muß wohl schon erkannt haben, wie offen und wach sie zeitlebens war, wie engagiert und mit wachem Blick auf die Defizite der Gesellschaft.
1969 etwa hatte sie als Bildungsstaatssekretärin einen Bildungsgesamtplan geschrieben. Da stand schon alles drin, was heute, knapp 40 Jahre später, in der Pisa-Studie steht. »Wir murksen heute noch genauso rum wie vor vier Jahrzehnten«, sagt Hildegard Hamm-Brücher.
Sie braucht ihre Stimme nicht zu erheben, um den bildungspolitischen Mißstand zu beschreiben. Dabei muß es zum Verzweifeln sein für jemanden, der 50 Jahre für eine Sache kämpft und dann den Stillstand sieht.
Hier kramt niemand in Erinnerungen, hier ist keine Nostalgie, hier spricht eine der profiliertesten Köpfe Münchens. »In guter Verfassung?« – der Buchtitel war zugleich Titel der Veranstaltung. In welcher Verfassung ist das Land und die Gesellschaft? Das wollten die 400 Zuhörer wissen.
Politisiert in der Nazizeit an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wo sie zum erweiterten Kreis der Weißen Rose gehörte, engagierte sie sich bereits 1948 als jüngste Münchner Stadträtin, Von 1950 bis 1966 saß sie für die FDP im bayerischen Landtag. Die Liberalen blieben ihre Partei – bis vor vier Jahren. Ihrer parlamentarischen Arbeit war 1964 der Sturz des bayerischen Kultusministers Theodor Maunz geschuldet, der über seine Nazi-Vergangenheit fiel. Immer wieder eckte sie beim Partei-Establishment an, und immer wieder honorierte die Basis ihre Außenseiterpositionen. Die hatte sie wegen ihrer Themen – Bildung war immer nur Randnotiz auf der politischen Agenda –, aber auch wegen ihres eigenen Kopfs. Aus Protest gegen Möllemanns »antiisraelische Tiraden« verließ Hamm-Brücher 2002 die FDP.
»Sie waren eine couragierte Abgeordnete«, lobte Oberbürgermeister Ude und ergänzte: »Auch so etwas kann es also geben.«
Hamm-Brücher bedankte sich für die Steilvorlage und forderte uneingeschränktes Rederecht für Abgeordnete. Denn man solle nicht glauben, daß Parlamentarier frei seien. Es gebe viel zu wenige abweichende Stimmen im Parlament, sagte sie. Deshalb gelte das Normale schon als heldenhaft.
Leider sei der Begriff der Partizipation, der Teilnahme und Teilhabe am politischen Prozeß, aus der Mode gekommen, beklagte der Historiker Frei, einer der renommiertesten seines Fachs. Ja, die Verfassung sei gut, meint Hamm-Brücher, »aber nicht gut genug, um sie beiseite zu legen«. Schon in der Schule werde Demokratie viel zu wenig eingeübt, beklagte sie. Zu wenige Lehrer seien demokratische Erzieher.
»Beim Umgang mit der Verfassung haben wir Verspätungen«, sagte Hamm-Brücher. So sei die Demokratie sechs Jahrzehnte nach der Diktatur noch immer nicht fest genug in der Gesellschaft verwurzelt. Als Abhilfe fände sie es ganz gut, »wenn wir mal ein großes Tier selbst wählen könnten«. Sie plädiert für eine Direktwahl des Bundespräsidenten, »ohne ihm mehr Kompetenzen zu geben«. Sie selbst war 1994 FDP-Kandidatin für das höchste Staatsamt – ohne rechte Unterstützung der eigenen Partei. Das Amt bekam Roman Herzog. »Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt«, sagte sie heiter.