Edita Kosinova kam am 1. Dezember 1941 nach Theresienstadt. Sie war als 20-Jährige von den Nationalsozialisten aus Brünn deportiert worden. Aus dem Leben gerissen, aus der Jugend, aus allen sozialen Bezügen. Aber es erging ihr vergleichweise noch gut: Edita Kosinova war Krankenschwester und arbeitete in dem Konzentrationslager in einem Hospital. »Und ich hatte Glück, weil Theresienstadt ein Durchgangslager war.« Juden aus Böhmen und Mähren wurden zunächst dorthin gebracht, für die meisten war das aber nur die erste Station auf ihrer Reise in den Tod. Kosinova war als Krankenschwester unabkömmlich und blieb bis zur Befreiung in Theresienstadt.
Keine Rettung Ihre Eltern wurden je-
doch weiter deportiert, »sie gingen 1941 ins Gas«, sagt die unter den Nationalsozialisten als »Halbjüdin« geführte Edita Kosinova. Religion hatte für sie in der Kindheit und Jugend keine Rolle gespielt. »Ich war 16 Jahre als ich erfuhr, dass ich ›Halbjüdin‹ sein soll«, erinnert sie sich bei einem Besuch am vergangenen Freitag im Rathaus in Reutlingen.
Pavel Hoffmann, der selbst als kleiner Junge vom vierten bis zum sechsten Le-bensjahr in Theresienstadt war, das KZ überlebte und 1971 nach Reutlingen zog, hatte eine zwölfköpfige Gruppe von Schoaüberlebenden an die Achalm eingeladen. Alle Besucher sind Mitglieder der Theresienstädter Initiative, einer Vereinigung von Überlebenden des Holocaust in Tschechien. Seit vier Jahren lädt nun die Maximilian-Kolbe-Stiftung jedes Jahr ein Dutzend alter Menschen aus dieser Initiative an den Bodensee ein. Wie auch in diesem Jahr.
Jindra Danelova kam mit neun Jahren nach Theresienstadt. Obwohl sie gar keine Jüdin war. Nur, weil ihre Zieheltern nach dem Tod von Jindras Mutter den Taufschein vergessen hatten, wurde das Kind deportiert. Auch Pavel Hoffmann kam als Kind dorthin, er erinnert sich in wenigen Fragmenten an die Ereignisse im Konzentrationslager. Der Reutlinger ist nicht so traumatisiert wie manch andere der Besucher. Hoffmann berichtet immer wieder vor Schulklassen oder in christlichen und jüdischen Gemeinden über die Geschehnisse in Theresienstadt, über den Wahnsinn, der dort und in zahlreichen anderen Konzentrationslagern geschah. »Theresienstadt war aber keine Tötungsanstalt«, sagt Edita Kosinova. Viele jüdische Künstler wurden dorthin verschleppt, es gab Aufführungen, Theater, Konzerte. Und das Lager wurde von den Nazis als Vorzeigelager präsentiert. »Es gab zu essen und zu trinken, wenn auch in miserabler Qualität«, erinnert sich die heute 88-Jährige.
Von den mehr als 140.000 nach There-sienstadt deportierten Menschen starben rund 33.000 in dem Ghetto, mehr als 88.000 wurden in andere Vernichtungslager weitergeschickt: nach Auschwitz, Bergen-Belsen, Mauthausen, Flossenbürg, Sachsenhausen. Edita Kosinovas Eltern sind im Juni 1941 in einem dieser Lager vergast worden. Ihr Bruder, der katholisch war, hatte seine Eltern nicht allein lassen wollen. Er wurde in den letzten Kriegstagen in einem anderen KZ erschossen.
All das erzählt die in Prag lebende Frau ohne sichtbare Gemütsregungen. Sie hat das wohl schon sehr oft erzählt. Ob sie denn nach dem Krieg, nach der Befreiung keinen Hass auf die Deutschen empfunden hat? »Zunächst war mir all das gar nicht bewusst, ich war schwer krank, konnte nicht mehr laufen und brauchte zwei Jahre, bis ich wieder auf die Füße kam«, sagt sie im Reutlinger Rathaus.
Täterland Als die Tschechoslowakei 1948 kommunistisch wurde, hatte sie die Möglichkeit nach Bonn zu gehen. Dort lebten Freunde von ihr. »Aber ich konnte nicht nach Deutschland«, sagt die 88-Jährige, und plötzlich laufen Tränen über ihre Wangen. »Wissen Sie«, sagt die Frau, »wenn ich heute Deutsche sehe, die über 70 Jahre alt sind, dann denke ich automatisch: Die hätten die Täter sein können, die meine Eltern ins Gas schickten.«
Nach dem Besuch im Reutlinger Rat-haus ging die Gruppe zum Mittagessen, und bevor sie wieder an den Bodensee zurückfuhren, besuchten die Gäste an-schließend noch das Heimatmuseum. Wenige Minuten später könnte es fast den Anschein haben, als wären sie gar nicht da gewesen. Und dennoch hatten diese netten, freundlichen, alten Menschen für einen Moment das Grauen und den Wahnsinn, den sie durchlitten haben, in die Stadt gebracht. Und damit gemahnt, dass so was nie wieder passieren darf.