von Rabbiner Joel Berger
Der Titelheld unseres Toraabschnitts für diesen Schabbat ist nicht nur wegen der Sintflut, jenes altertümlichen Weltuntergangs, bekannt, sondern mit ihm verbindet die Tora auch die Pflanzung eines Weinbergs (1. Buch Moses 9, 20-21).
»Noach aber ... pflanzte als Erster einen Weinberg. Und da er von dem Wein trank, ward er trunken und lag im Zelt aufgedeckt.« Der Wein und der durch ihn verursachte Rausch werden im Midrasch (Bereschit Raba 36,3) äußerst kritisch bewertet. Gemäß dieser Stelle der exegetischen Literatur habe Noach einen moralischen Niedergang eingeleitet. Er öffnete damit den Weg des Leichtsinns und verantwortungslosen Handelns für viele Menschen. Dennoch verbietet die Tora keineswegs das Trinken von Wein.
Der Prophet Jesaja, ein sendungsbewusster Künder (Navi) der späteren Epoche, klagt gegen die Maßlosigkeit im Weingenuss: »Weh denen, die des Morgens früh auf sind, dem Bechern nachzugehen, und sitzen bis in die Nacht, dass sie der Wein erhitzt, und haben Harfen, Zithern, Pauken, Pfeifen und Wein in ihrem Gelage …« (Jesaja 5,11). Die Sorgen des Propheten beziehen sich auf die Folgen solcher Handlungen: »… aber sehen nicht auf das Werk des Herrn und schauen nicht auf das Tun seiner Hände« (Vers 12).
Es scheint aber nicht das Anpflanzen des Weinbergs zu sein, das der Midrasch verurteilt. Denn wie wir im 1. Buch Moses 2,8 lesen, hat Gott selbst einen Garten mit allerlei Bäumen für den Menschen gepflanzt. Und ferner ist eine der ersten Mizwot, die unsere Vorfahren nach dem Einzug in das Heilige Land erhielten, das Pflanzen von Bäumen (3. Buch Moses 19,23). Im Land wurde der Weinstock bereits vorgefunden und weiter gepflegt. Im fünften Buch Moses (Kapitel 8, Vers 8) wird der Wein neben Weizen, Gerste und Feige zu den sieben gesegneten Früchten des Landes gezählt. Bis in unsere Zeit werden die meisten religiösen Zeremonien mit dem Se- gensspruch über einen vollen Kelch mit Wein begonnen. Es kann also nicht sein, dass der Akt, einen Weinstock zu pflanzen, die Kritik unserer Weisen erregt hätte. Vielmehr wandten sie sich, wie der Prophet Jesaja, gegen die Folgen des unmäßigen Weingenusses, der wie im Fall Noachs zur Selbsterniedrigung und Demütigung vor seinen Kindern geführt hatte.
Nach einer Erzählung des Midrasch war Noach der erste Mensch, der vom Wein berauscht wurde. Als Grund führt die exegetische Literatur aus, dass Noach, als er nach der Sintflut seine Arche verließ, verzagt war. Denn er musste erkennen, dass er die Erde aufs Neue bebauen musste. Also pflanzte er Weinberge und suchte im Saft der Reben Mut und Trost für diesen Neubeginn. Der Midrasch begründet in einer Allegorie die unterschiedlichen Stationen des Weinrausches: Als Noach die Reben pflanzte, kam der Satan und erkundigte sich, was er denn tue. Auf Noachs Antwort hin bot er an, sich an den umfangreichen Arbeiten am Weinberg zu beteiligen. Noach nahm die Hilfe dankend an.
Die Mitarbeit des Satans entwickelte sich eigenartig: Zuerst brachte er ein Lamm, das er schlachtete; dann trieb er einen Löwen an, den er auch tötete. Zum Schluss führte er noch ein Borstenvieh und einen Affen an, die er ebenfalls erlegte. Mit dem Blut dieser vier Tiere, so der Midrasch, begoss er die Weinstöcke. Damit wollte er listig, ohne Noachs Wissen, die Menschen verderben. Deshalb ist man nach dem ersten Glas Wein noch sanftmütig und mild wie ein Lamm. Nach weiteren Gläsern wird man mutig und wild wie ein Löwe, und wenn man noch weiter trinkt, wirkt man häufig wie ein Ferkel, das sich im Schlamm wälzt. Und wenn man sich dann nicht enthalten kann, wird man wie ein Affe, der gedankenlos herumhüpft, zur Belustigung der anderen. Diese Allegorie findet man auch in mehreren Stellen der Weltliteratur.
Globale Katastrophen wie einst die Sintflut werden heute wegen des verantwortungslosen Umgangs mit der Schöpfung heraufbeschworen. Wir hoffen, dass die Mahnungen zur Rettung der Umwelt heute eher wahrgenommen werden als die Mahnungen zur Rettung der Menschen damals zu Noachs Zeiten. Die Erzählung über Noach schildert aber – wie Moshe David Cassuto, der frühere Oberrabbiner von Florenz, schrieb – »die verschiedenen Stadien der göttlichen Gnade, die das Leben auf der Erde erneuern. Dann sehen wir eine zur Ruhe gekommene Welt, geschmückt mit dem Regenbogen, der sein Farbenspektrum durch die Wolken reflektiert.« Gott sprach zu Noach: »Das sei das Zeichen des Bundes, den ich aufgerichtet habe zwischen mir und allen Wesen auf Erden« (1. Buch Moses 9,17).
Nach der Sintflut schloss Gott also einen Bund mit allen Menschen. Zeichen dieses Bundes ist der Regenbogen. Demgegenüber betrachten wir als unser verbindliches Bundeszeichen mit dem Schöpfer die Tefillin für die Wochentage, den Schabbat als Ruhetag Gottes und die Brit Mila, das unablegbare Zeichen des jüdischen Mannes. Samson Raphael Hirsch, der frühere Frankfurter Rabbiner, betont, dass der Symbolgehalt des Regenbogens sich nach der Sintflut erneuerte. Wir lernen in den Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter, Kapitel 5: »Zehn Dinge wurden am sechsten Schöpfungstag, am Rüsttage des Schabbat, noch in der Dämmerung erschaffen.« Unter anderem auch der Regenbogen. Erst nach der Sintflut wandelte sich der Regenbogen zum Bundeszeichen für die ganze Menschheit.
Die Hoffnung bleibt, um es mit den Worten Cassutos auszudrücken: »Der Regenbogen soll das Zeichen der Sicherheit für das Leben und für den Frieden der kommenden Generationen sein.«
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.
Noach: 1. Buch Moses 6,9 – 11,32