von Michael Wuliger
»Das breite Meinungsspektrum in der jüdischen Bevölkerung dieses Landes wird nicht von den Institutionen widergespiegelt, die sich anmaßen, für die jüdische Gemeinschaft insgesamt zu sprechen.« Mit diesen Worten beginnt ein Aufruf von mehr als hundert bekannten britisch-jüdischen Künstlern und Intellektuellen, darunter der Schriftsteller Stephen Fry, der Historiker Eric Hobsbawm und der Literaturnobelpreisträger Harold Pinter. Die kritisierten Institutionen sind das Oberrabbinat sowie der »Board of Deputies«, eine dem Zentralrat vergleichbare Dachorganisation. Ihnen wirft die Initiative »Independent Jewish Voices« vor, »durchweg die Interessen einer Besatzungsmacht höher zu stellen als die Menschenrechte eines besetzten Volks.«
Die Rede ist natürlich von Israel und den Palästinensern. In deren Konflikt sollten Juden nicht einseitig und unreflektiert Partei zugunsten des jüdischen Staats ergreifen, so der Aufruf, sondern sich von der jüdischen Tradition der universellen Freiheiten, der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit leiten lassen. Dazu verpflichteten nicht zuletzt die Lehren der eigenen Geschichte. Es sei deshalb an der Zeit, innerhalb der jüdischen Gemeinschaft endlich offen abweichende Meinungen äußern zu dürfen, ohne sofort der Illoyalität oder des Selbsthasses bezichtigt zu werden.
Die Reaktion des »Board of Deputies« kam prompt. Der Dachverband, so sein Generalsekretär Jon Benjamin, vertrete Juden unterschiedlichster Auffassungen, die sich aber in ihrer Unterstützung für das israelische Volk einig seien. Man fühle sich auch nicht verpflichtet, jede Einzelmaßnahme der israelischen Regierung zu kommentieren. »Independent Jewish Voices« solle sich lieber in den Gemeinden und jüdischen Institutionen einbringen, statt von außen rumzumäkeln. Dann würden die Unterzeichner schnell feststellen, dass die meisten britischen Juden mit ihnen nicht einverstanden seien.
Das war noch moderat im Vergleich zu der Journalistin Melanie Phillips von der konservativen Zeitung Daily Mail. Sie griff die Unterzeichner des Aufrufs frontal an. Es handele sich zumeist um Leute, die keine echte Beziehung zum Judentum hätten und nur als Juden aufträten, um den jüdischen Staat besser verleumden zu können. »Diese intellektuellen Israel-Basher« seien eine »jüdische Fünfte Kolonne« des islamischen Terrorismus. Als Komplizen der Feinde des jüdischen Volkes stünden sie in der Tradition mittelalterlicher Konvertiten sowie in der von Karl Marx. Überschrift der Diatribe: »Juden für Völkermord«.
Für hiesige Beobachter hat die britische Debatte – wenn man den Austausch von Unterstellungen und Beleidigungen so nennen will – einen tröstlichen Aspekt: Mangelnde Streitkultur ist offenbar keine Eigenheit deutscher jüdischer Gemeinden.