von Johannes Boie
In Dortmund ist die jüdische Welt in Ordnung. Der Rabbiner, Avichai Apel, wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern im Gemeindehaus. Das klingt selbstverständlich – und ist es doch nicht. In vielen Städten ist es nicht denkbar, dass der Rabbiner in der Gemeinde wohnt und ständig erreichbar ist. Denn ein fest angestellter Rabbiner ist teuer.
Auch in Dortmund war die Idylle nicht immer vollkommen. Noch vor drei Jahren sei Apels Vorgänger Henry Brandt nur hin und wieder zu Besuch in die Gemeinde gekommen, sagt Hannah Sperling, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. »Heute können wir uns das nicht mehr vorstellen.« Mit mehr als 3.500 Mitgliedern sei ihre Gemeinde zu groß, um auf einen permanent anwesenden Rabbiner zu verzichten. Dass Apel in Dortmund bleiben kann, ist zu einem großen Teil den Steuern der zahlreichen Mitglieder zu verdanken. »Wer es sich leisten kann, sollte sofort einen Rabbiner nur für die eigene Gemeinde fest einstellen«, sagt Hannah Sperling.
»Es steht und fällt mit dem Geld«, bestätigt Walter Blender, Vorstand der Bad Segeberger jüdischen Gemeinde, die von Walter Rothschild versorgt wird, dem Landesrabbiner von Schleswig-Holstein. Rothschild ist in ganz Deutschland und sogar in Österreich als Honorarrabbiner unterwegs, er fährt von seinem Wohnort Berlin unter anderem nach Freiburg, Köln, Kiel, Wien und Halle. Viele kleine liberale Gemeinden haben ihn als Rabbiner verpflichtet. Seine wichtigsten Arbeitsgeräte sind Handy, Notebook und Bahncard. Rothschild lebt auf Achse – aber er kann diesem Leben auch positive Seiten abgewinnen: »Ich bin nicht von einer einzelnen Gemeinde abhängig«, sagt Rothschild. Die Gemeinden könnten auch davon profitieren, dass ihre Rabbiner viel unterwegs sind. Er bringe bei Problemen manchmal Lösungen aus anderen Gemeinden mit – Wissenstransfer quer durch die Republik. Die räumliche Distanz zur Gemeinde verhindere auch, sagt Rothschild, dass Rabbiner als »bessere Hausmeister« eingesetzt würden.
Wer nur gegen Bezahlung kommt, verhandelt mit den Vorständen auf Augenhöhe. Gemeinde-Vorstand Blender: »Wir geben uns Mühe, dass sich Rothschild bei uns wohlfühlt.« Damit die Mitglieder der Bad Segeberger Gemeinde möglichst viel von Rothschild haben, schreibt Blender dem Rabbiner für jeden Besuch einen detaillierten Arbeitsplan. Auch wird Rothschild eine kleine eigene Wohnung zur Verfügung gestellt, damit keine Hotelkosten entstehen. Und obwohl bislang immer alles gut geklappt hat, sagt Blender, dies solle kein dauerhaftes Modell sein. »Wenn wir das Geld hätten, würden wir dafür sorgen, dass unser Rabbiner ständig bei uns wohnt.«
Auch Walter Rothschild bedauert, dass er trotz aller guten Organisation nicht immer dort sein kann, wo die Leute ihn brauchen. Er gesteht, dass es ihm teilweise an engen Beziehungen zu den Mitgliedern fehlt. Ein spontaner Krankenbesuch zum Beispiel, der zu den Aufgaben des Rabbiners gehört, sei nicht möglich.
Noch problematischer ist das Konzept des unter mehreren Gemeinden geteilten Rabbiners in Ostdeutschland. Hier sind die Gemeinden auch 17 Jahre nach der Wende noch im Wiederaufbau begriffen. Der Rabbiner sollte hier als Vorbild und Ansprechpartner wirken, sagt Ruth Röcher, Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz. Doch sie vertraut inzwischen mehr auf ihre Mitglieder als auf den Rabbiner: »Seit zwei Jahren führen die Einwanderer Schabbat für Schabbat in Eigenregie die Gottesdienste.« Darauf ist Röcher sehr stolz: »Von Null Judentum zu Gottesdienstmachern – so soll es doch sein.«
Der für die Chemnitzer Gemeinde zuständige Rabbiner Salomon Almekias-Siegl betreut als sächsischer Landesrabbiner auch die Gemeinden in Dresden und Leipzig. In der Messestadt hat er eine Dienstwohnung, privat wohnt er in Berlin. »Die drei Gemeinden sind gut organisiert«, sagt Almekias-Siegl. »Einmal in der Woche habe ich Sprechzeit in jeder Gemeinde. Ich habe eine Sekretärin, die Menschen können anrufen, ich melde mich dann schnell zurück.« In Leipzig habe er einen Mann ausgebildet, der ihn im Gottesdienst vertreten könne, wenn er in Dresden oder Chemnitz sei. »Es gibt einen Plan lange im Voraus. Ich bin zu allen wichtigen Veranstaltungen vor Ort.«
Dass es die reisenden Rabbiner schwer haben, bestreitet niemand. Trotzdem wird manch einer hinter vorgehaltener Hand harsch kritisiert. Jemand, der die jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland gut kennt, aber seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt: Kaum ein Rabbiner sei qualifiziert genug, um in so weniger Arbeitszeit wieder jüdische Strukturen zu etablieren. Viele Rabbiner von außerhalb ärgerten sich zwar über leere Synagogen bei ihren Gottesdiensten. Wer aber, fragen sich viele, soll denn die Leute in den Gottesdienst bringen, wenn nicht der Rabbiner?
»Unser Rabbi kommt drei, vier Tage im Monat, bei Beerdigungen bleibt er eine Stunde am Friedhof, dann fährt er wieder weg. Wo bleibt die Seelsorge?«, ärgert sich ein Mann, der ungenannt bleiben möchte. Manch einer in Gemeinden, die von reisenden Rabbinern betreut werden, zieht längst ein bitteres Fazit: »Auf Kurzbesuche können wir verzichten.«
Nachum Presman, Rabbiner von Chabad Lubawitsch im Land Brandenburg und viel in den Gemeinden Cottbus, Potsdam und Frankfurt an der Oder unterwegs, kennt die Kritik. »Das System des reisenden und geteilten Rabbiners ist nicht normal«, sagt er. Ein Rabbiner müsse immer da sein, von morgens bis abends, sogar nachts. Presman hält das Problem für nicht lösbar – selbst wenn genügend Geld da wäre. »Es gibt einfach viel zu wenige Rabbiner.«