Café Atara

Beichtmütter und Lesemappen

von Gad Granach

Der Abstieg des Atara begann eigentlich mit einem Aufstieg. Nachdem Uri Grinspan, der Sohn der Gründer, das Café in den neunziger Jahren an »Burger King« verkauft hatte, zog er ein paar Häuser weiter rauf in der Ben-Jehuda-Straße. Immerhin hatte er dabei eine Art Plattform vor dem Café bauen lassen, auf der man ohne Schlagseite sitzen konnte. Die Ben Jehuda ist abschüssig, die Tische stehen immer schief. Wenn man im alten Atara einen Kaffee bestellt hatte, konnte man runter laufen zum Zionsplatz und dort die Tasse in Empfang nehmen. Die Veranda war also ganz praktisch. Völlig unpraktisch aber war die neue automatische Glastür. Wir Juden sind doch ein neugieriges Volk, jeder drückte seine Nase an die Tür, um zu sehen, wer drinnen saß. Zisch – die Tür ging auf, drinnen zog es, vor allem im Winter und draußen blockierten die Leute den Eingang. Wenn einer genug geguckt hatte und die Tür wieder zuging, kam kurz darauf schon der nächste, und das Ganze begann von vorne.
Wenig später zog das Atara ganz um, in die Gasastraße. Die dunkelgrüne Markise gab es immer noch, und an der Tür das Markenzeichen, die goldene Krone. Vom alten Stammpublikum war nicht mehr viel übrig. Das war nach dem Umzug weggeblieben, oder hatte sich auf natürliche Weise reduziert. Und die ältlichen Leute, die dort noch saßen, hatten in früheren Zeiten als Kinder in kurzen Hosen unter den Tischen rumgeturnt. So haben mit dem Umzug beide verloren. Das Atara, und die Ben-Jehuda-Straße.
Als die Grinspans 1938 ihr »Esslokal« eröffneten, haben sie nicht nur Kaffeehauskultur nach Palästina gebracht, sondern Kaffeekultur. Die Polen und die Russen, die schon da waren, haben Tee getrun- ken: mit einem Stück Würfel- oder Kandiszucker zwischen den Zähnen und dann die Flüssigkeit durchgeschlürft. Dann gab’s noch Jeruschalmi, einfach Kaffeepulver in die Kanne und dann heißes Wasser drübergegossen. Das war auch ungenießbar. Aber am schlimmsten war der türkische Kaffee. Beim ersten Schluck verbrennt man sich den Mund, beim zweiten knirscht schon der Kaffeesatz zwischen den Zähnen. Grauenhaft.
Im Atara aber wurde »Kaffee Afuch« serviert. Nicht, dass das eine neue Erfindung gewesen wäre. »Kaffee verkehrt« – wenig Kaffee in viel Milch – gab’s auch in Deutschland. Wahrscheinlich ist es eine Wiener Erfindung. Die Wiener hatten doch das Glück, dass die Osmanen bei der Belagerung ein paar Säcke mit Kaffeebohnen zurückgelassen haben. Anders als die Türken aber haben die wenigstens nach einigem Herumprobieren was Anständiges draus gemacht.
Für die Jeckes war das Atara ein Stück Heimat. Man ging ins Café, um zu sehen und gesehen zu werden. Jeder kannte jeden. Oben, im ersten Stock des alten Atara, saßen die Jüngeren. Die Älteren, die die Treppen nicht mehr schafften, saßen unten. Und jeder hatte »seine« Kellnerin. Das waren keine kleinen Aushilfsmädchen, sondern gestandene Frauen, die oft jahrelang dort gearbeitet haben. Ich erinnere mich an Stella und Zima, die wussten nicht nur genau, was ihre Stammkunden immer bestellten, die waren auch Beichtmütter. Mit denen haben manche Gäste wahrscheinlich mehr geredet als mit den eigenen Ehefrauen.
Am Wichtigsten aber waren die Lesemappen. Darin lag der »Tatler«, das britische Magazin, auf dessen Titelblatt immer irgendjemand aus dem englischen Hochadel abgebildet war und das natürlich sämtlichen Klatsch berichtet hat. Und deutschsprachige Zeitungen wie die Züricher »Weltwoche«. Während des Krieges kamen die oft mit wochenlanger Verspätung, aber studiert wurden sie wie die Heilige Schrift. Da kamen dann Herr Doktor und Frau Doktor, griffen sich sämtliche Lesemappen und legten sie auf dem Stuhl neben sich ab, damit nur ja kein anderer sie zuerst bekam. Das waren Leute, die nichts mehr hatten, außer die Zeitung zu lesen und sich mal eine Tasse Kaffee zu leisten. Nicht mal den Mantel haben sie abgelegt, aus Angst, er könnte geklaut werden.
Wer in welches Café ging, war genau festgelegt. Wir Jeckes gingen ins Atara. Die höhere Gerichtsbarkeit Jerusalems saß im Café Tamon, direkt gegenüber vom Amtsgericht. Die jungen Sabres besuchten das Alaska, die Ungarn waren im Café Sichel. Einer der wenigen Orte, an denen sich unterschiedliche Gruppen trafen, war das Café Europa an der Ecke Ben-Jehuda- und Jaffastraße, da, wo heute die Bank Leumi ist. Dort trafen sich britische Offiziere mit ihren Ehefrauen, vornehme Araber und der jüdische Mittelstand zum Tanztee. Manchmal beschleicht mich noch immer ein komisches Gefühl. In Auschwitz brannten die Öfen, und wir saßen im Café.
Naja, mit dem Tanztee im »Europa« war’s dann spätestens mit dem Unabhängigkeitskrieg vorbei. 1948 haben die Araber eine Autobombe gezündet, unter den Augen der Briten. Die Ben Jehuda sah aus, wie nach einem Bombenangriff. Alles lag in Trümmern, es gab viele Tote. Die Erschütterung konnte man kilometerweit spüren. Dann begann die Zeit der Straßensperren. Jede Landsmannschaft hatte doch ihren eigenen »roadblock«: hier die Hagana, dort der Etzel und der Irgun. Außerdem musste man genau wissen, ob man sich auf arabischem oder jüdischem Territorium befand. Sich im falschen Gebiet aufzuhalten, konnte lebensgefährlich werden. Da ging keiner mehr ins Café. Und in den Neunzigern kamen wieder die Bomben. Jetzt sprengten sich palästinensische Selbstmordattentäter auf der Ben Jehuda in die Luft. Das Atara ist seltsamerweise immer verschont geblieben.
Es war der Treffpunkt der ganzen deutschen Community. Alle deutschen Journalisten, die nach Jerusalem kamen, trafen sich dort am Freitagnachmittag. Und die Intellektuellen, oder solche, die sich dafür hielten. Jahrelang hielt Schalom ben Chorin hier Hof. Freitagmittags setzte seine Frau ihn oben an der King George ab, und er schluffelte dann langsam die Straße runter. Meist wurde er schon unterwegs von einer seiner Verehrerinnen in Empfang genommen. Da saß er dann und hielt seine theologischen Vorträge, ihm zu Füßen die weibliche Anhängerschar, deutsche Mädchen mit unrasierten Beinen und weiten Röcken, die andächtig den weisen Worten des großen Meisters lauschten. Die busenlosen Wunder habe ich sie immer genannt.
Jetzt hat Uri Grinspan wegen eines albernen Rechtsstreits mit der Stadtverwaltung das Atara zugemacht. Vergangenen Freitag war letzter Arbeitstag, endgültig. Angeblich war die Pergola ein paar Quadratzentimeter zu groß, das geht gegen die Bauvorschriften. Monatelang hat sich das hingezogen. So endet eine Institution, selbst, wenn sie dem alten Atara nicht mehr allzu ähnlich war. Unsere Politiker sind wirklich zu dämlich.

(Aufgezeichnet von Sylke Tempel)

Gad Granach wurde 1915 in Rheinsberg geboren, emigrierte 1936 nach Haifa und lebt in Jerusalem. Seine Autobiografie »Heimat los!« ist 1997 im Ölbaum-Verlag erschienen.

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