von Hannes Stein
Das Judentum nimmt die Sünde der »bösen Zunge«, der Laschon ha-ra, bekanntlich keineswegs leicht. »Du sollst nicht als Verleumder in deinem Volke umgehen«, heißt es in der Tora (3. Buch Moses 19,16), ferner steht geschrieben: »Ihr sollt einander nicht übervorteilen« (25,17) – dies wird so gedeutet, dass man einander nicht durch lose Reden schaden soll. Im Talmud steht, die Zunge sei ein dermaßen gefährliches Instrument, dass sie gleich hinter zwei Barrieren, den Lippen und den Zähnen, versteckt werden muss. Über andere zu klatschen, gilt unter frommen Juden nicht als Kavaliersdelikt, sondern als schweres Vergehen.
Und es kommt noch besser, was in diesem Fall heißt: noch strenger. Als Laschon ha-ra gilt auch, wenn man über einen anderen etwas herumerzählt, was in jedem Detail der Wahrheit entspricht; sogar dann, wenn es sich um gar nichts Negatives handelt; sogar dann, wenn jeder um die Sache weiß; sogar dann, wenn niemand dabei verletzt wird; sogar dann, wenn der Betreffende über sich selbst dasselbe sagen würde. Kein anderer hätte also das Recht, etwa Folgendes zu schreiben: »Hannes Stein hat eine Stirnglatze und einen schiefen Vorderzahn.« Böse Zunge! Übrigens werden von 43 Sünden, die man zu Jom Kippur im »Al Chet«-Gebet beichtet, nicht weniger als elf durch Sprache begangen.
Was aber tut ein Jude, der den beinahe unwiderstehlichen Drang verspürt, über einen Sohn oder eine Tochter Israels so richtig herzuziehen? Das kommt gelegentlich vor – die Sucht nach der Laschon ha-ra kann so stark sein wie für Nikotinliebhaber der Drang nach einem tiefen Zug aus der Lucky Strike. In Amerika weiß man in solch misslichen Fällen zum Glück Abhilfe: Die New Yorker Chofetz Chaim Heritage Foundation hat eine »Shmiras Haloshon Sheila«-Hotline eingerichtet, eine Art Telefonseelsorge für Leute, die Fragen zu den einschlägigen halachischen Vorschriften haben (001-718-951-3696).
Allerdings ist die Hotline leider nicht sehr hot. Eine Stichprobe ergibt, dass nur in der späten Abendstunde (Ostküstenzeit) Rabbiner den Ratsuchenden mit halachischen Auskünften unter die Arme greifen. Morgens wird der arme Sünder mit seiner Versuchung allein gelassen. Meistens ist es aber auch nicht so, dass Leute anklingeln, als seien sie Selbstmörder, die gerade eben im Begriff stehen, vom Dach zu springen, erzählt Rabbi Lamm, der jede Woche im Durchschnitt mit ungefähr 20 Anrufern zu tun hat. »Die Leute melden sich nicht bei uns und sagen: Haltet mich zurück! Eher wollen sie praktischen Rat in ethischen Fragen.« Die Vorschrift, keinen Klatsch über andere zu verbreiten, kommt im Alltag ja häufig mit anderen Regeln in Konflikt: zum Beispiel dem Gesetz, einem Blinden kein Hindernis in den Weg zu legen (3. Buch Moses 19,14). Was tut man, wenn man sieht, dass ein Freund nicht weiß, dass er es mit einem Betrüger zu tun hat, und die Gefahr besteht, er könnte bei einem Geschäftsabschluss über den Tisch gezogen werden? Darf man ihn dann etwa nicht warnen? (Man darf. Auch als Zeuge vor Gericht auszusagen, gilt ja als gute Tat.)
Rabbi Lamm – der wie so viele orthodoxe Juden in Monsey im Bundesstaat New York lebt – erzählt von einem konkreten Casus. Das Kind einer jungen Frau hatte sich am Ofen die Hand verbrannt – das Kindermädchen war nachlässig gewesen und hatte nicht aufgepasst, als das Baby nach der heißen Ofentür griff. Die Brandwunde war deutlich sichtbar. Danach besuchte die junge Frau ihre Mutter nicht mehr. Sie fürchtete, es könnte zu Nachfragen kommen; dann hätte sie die Geschichte erzählen und dabei das Kindermädchen bezichtigen müssen. Laschon ha-ra! Rabbi Lamm riet ihr einfach, nicht den gesamten Tathergang zu berichten. »Das Kind hat sich die Hand verbrannt, das reicht vollkommen.« Fall gelöst, die junge Frau konnte ihre Mutter wieder besuchen.
Die Anrufe kommen bei einer Telefonzentrale an und werden anschließend anonym an verschiedene halachische Autoritäten weitergeleitet. Rabbi Lamm kann also nicht genau wissen, welchen Hintergrund die Anrufer haben, aber er hat deutlich den Eindruck, dass sich nicht nur ganz fromme Leute an ihn wenden. Er hat schon mit Leuten aus Brasilien und aus Israel telefoniert, seine Stammklientel bilden jedoch amerikanische Juden. »Viele rufen vor ihrer Hochzeit an«, berichtet Rabbi Lamm. »Bevor sie unter den Traubaldachin treten, wollen sie mit sich selbst ins Reine kommen. Diese Leute sagen dann so etwas wie: In meiner High School habe ich einen Lehrer beleidigt, soll ich ihn jetzt um Verzeihung bitten?« Tja, was würde der Chofetz Chaim dazu verlautbaren, jener große polnische Rabbiner des 19. Jahrhunderts, der über das rechte Sprechen ein berühmtes Buch verfasst hat?
Es ist leicht, über die fromme Chofetz Chaim Heritage Foundation zu spotten, die von orthodoxen Juden in seinem Namen gegründet wurde – sehr leicht, bis man spürt, wie anrührend diese spezifisch jüdische Form der Telefonseelsorge eigentlich ist.
Viele Anrufer, meint Rabbi Lamm, entblößen den tiefsten Grund ihrer Seele. Er fühle sich »angefeuert« durch diese Ratsuchenden: Es sei beruhigend zu wissen, dass es dort draußen viele Menschen gebe, die das Richtige tun wollen.
www.chofetzchaimusa.org