Paula Zimerman-Targownik

»Behinderung darf kein Tabu sein«

Die Zeit vor Amilis Batmizwa hat eigentlich begonnen, als unsere Tochter zwei Jahre alt war. Seitdem haben sich mein Mann Dani und ich gefragt: »Wie wird es sein, wenn Amili Batmizwa ist?« Ganz oft haben wir uns das gefragt. Plötzlich war es dann da, das Fest, und es blieben uns nur noch wenige Tage. Alles ging drunter und drüber. Wir mussten uns um das Essen und die ganze Organisation kümmern. Unsere Familien aus Brasilien, Kanada, Australien, Israel kamen angereist, Dani und ich hatten noch einen Termin in Köln wegen eines Filmprojekts, außerdem gab es hier in München eine Filmpräsentation von uns, und die beiden jüngeren Schwestern von Amili, Annabel und Carmen, konnten das Wort »Batmizwa« nicht mehr hören. Ach ja, Annabel hatte dann noch einen ganz schlechten Tag. Sie hatte etwas Falsches gegessen und musste sich ständig übergeben, und zuguterletzt die Geschichte mit dem Kleid. Amilis himmelblaues Kleid! Wir haben es extra für sie machen lassen, in Brasilien, als mein Bruder dort vor einigen Wochen geheiratet hat. Wir haben der Schneiderei gesagt, einen Zentimeter mehr hier und dort, wegen der Batmizwa und damit es dann noch passt. Und dann haben wir es Amili angezogen. Der Reißverschluss ist kaum zugegangen. Und es war doch extra für sie angepasst, extra auch für den Rollstuhl, hinten ein bisschen kürzer als vorne … Wir hatten keine Zeit mehr, so eine Spezialanfertigung hier in Deutschland machen zu lassen, außerdem würde es in Deutschland sehr, sehr teuer sein. In Brasilien kostet so etwas fast nichts. Dann habe ich also zu Amili, die einen sehr guten Appetit hat, gesagt: »Pass auf, wir haben keine Zeit mehr für ein neues Kleid. Wir machen dir immer einen Teller mit Essen, und mehr gibt es nicht.« Amili war tapfer. Eigentlich verlangt sie doch so gerne nach mehr, aber sie hat es geschafft, das Kleid hat gepasst!
In den letzten beiden Jahren, in ihrer Vorbereitungszeit, ist Amili zu einer richtigen Batmizwa geworden. Sie hat sich sehr entwickelt; körperlich, aber auch im Kopf. Sie will, wie andere Mädchen, in ihrem Alter alleine sein, Musik hören … Das beobachteten wir mit sehr gutem Gefühl, weil sie natürlich wegen ihrer Behinderung jemand ist, der unsere Hilfe braucht. Aber jetzt versucht sie, mehr allein zu schaffen. Sie ist wirklich erwachsen geworden, auch weil alle um sie herum voller Erwartung auf sie gesehen haben. Viele haben gesagt, als Batmizwa musst du zeigen, dass du erwachsen bist. Das hat sie beeindruckt. Amilis Religionslehrerin Michaela Rychla hat es geschafft, ihr gegenüber die Rolle der jüdischen Frau so toll darzustellen, dass man nur staunen kann. Ihre Behinderung war im Religionsunterricht kein Thema.
Ich selbst hatte keine Batmizwa. Das war nicht üblich bei uns in Brasilien, kein Mädchen hatte das dort. Mein Bruder hatte eine tolle Barmizwa, daran erinnere ich mich. Aber ich hatte nichts. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich war in Amilis Alter. Ich wollte damals die Welt verändern, etwas schaffen. Ich habe allem und jedem widersprochen. Ich war Zionistin und habe viele Filme gesehen über Israel. Aber das waren alles sehr alte Filme, über die Zeit, als Israel entstanden ist, und ich bekam ein völlig falsches Bild: Ich war davon überzeugt, dass man mich dort brauchte, um das Land aufzubauen. Israel wartet auf mich, habe ich gedacht, dort kann ich etwas verändern. Als ich dann zum ersten Mal nach Israel reiste, war ich überrascht: Alles war schon fertig!
Jahre später habe ich, wie auch Dani, die Filmhochschule in Israel besucht. Wir haben geheiratet, und Amili kam auf die Welt. Sie kam behindert auf die Welt, und wir hatten es nicht leicht. Zusammen mit ihr und Dani habe ich seitdem einiges bewegt, wir haben manches verändert, so wie ich es mit zwölf Jahren gewollt und nicht geschafft hatte. Das hat mich gefreut. Das wollte ich Amili eigentlich sagen bei ihrer Batmizwa vor allen Leuten, aber dazu blieb keine Zeit. Es gab ja schon so viele Reden.
Es war bewegend, als Amili zu uns und zu allen gesprochen hat. Für mich war es ein bisschen zu viel. In Brasilien hält man keine Reden. Mir war das zu emotional. Ein ganzes Leben zieht da an einem vorbei. Amili in meinem Bauch, Amilis Geburt … Sie ist behindert, weil damals ein Professor in der Geburtsklinik in Tel Aviv einen Fehler gemacht hat. Er hat auf Hinweise des ungeborenen Kindes nicht reagiert. Heute bekommt Amili monatlich eine Entschädigung auf ein Konto überwiesen. Das erledigt die Versicherung des Professors. Ich wollte einen Stein in das Fenster seiner Wohnung werfen. Dani fand das kindisch. Niemand hat uns nach der Geburt gesagt, dass unser Baby behindert ist. Aber wir haben gemerkt, etwas ist nicht in Ordnung. Es war eine sehr schwere Zeit für uns. Dani flüchtete in die Arbeit, er arbeitete damals für die ARD. Ich habe es irgendwann nicht mehr ausgehalten, wir mussten etwas ändern. So zogen wir in die Wüste. Mit sehr wenigen Menschen lebten wir dort. Und da in der Wüste hat uns zum ersten Mal jemand gesagt – es war eine Physiotherapeutin: »Hört mal, euer Kind ist behindert, für dieses Kind gelten eigene Regeln.« Von da an konnten wir kämpfen.
Wegen einer Vojta-Therapie, auf die Amili als Baby gut angesprochen hatte, sind wir nach Deutschland, nach München, gekommen. Und wir sind geblieben. Danis Eltern leben hier, und Dani wurde hier geboren. Danis Schwester Ronit war übrigens das erste Mädchen, das in München eine richtig religiöse Batmizwa bekommen hat. Das war 1976, noch im Saal bei der alten Synagoge in der Reichenbachstraße. Danis Mutter hat das damals durchgesetzt und es mir zu Amilis Fest erzählt. Dann kamen Annabel und Carmen auf die Welt, und eines Tages erhielten wir einen Brief von Frau Knobloch: »Gebt eure Kinder in die jüdische Schule«, schrieb sie. Wir fanden das toll, vor allem für Amili, die sich jedem vorstellte: »Also, ich heiße Amili, und ich bin Jüdin«. Uns war das manchmal richtig peinlich, aber wir haben gedacht, so ist Amili, und sie passt auf die jüdische Schule, das ist wichtig und richtig für sie. Doch dann wurde sie dort nicht genommen. Ich konnte das nicht glauben. Für alle Schwierigkeiten bot ich der Schule Lösungen an, aber man war mit dem Thema Behinderung überfordert. Es war ein Tabuthema. Als dann vor einigen Jahren das neue jüdische Zentrum am Jakobsplatz gebaut wurde, wollte ich immer wieder die Pläne sehen oder mit der Architektin sprechen. Aber das ging nicht. Der Lift zur Frauengalerie musste nachträglich eingebaut werden. Immer wenn ich Frau Knobloch gesehen habe, habe ich gesagt: »Amili feiert im Dezember Batmizwa, bis dahin braucht sie einen Lift, weil sie dann nicht mehr bei den Männern unten sitzen kann.« Jetzt gibt es den Lift.
Unser Motto heißt »Geht nicht, gibt’s nicht«. Jeder wird irgendwann mit dem Thema Behinderung konfrontiert, vielleicht wenn die eigenen Eltern alt werden, man eines Tages selbst behindert ist oder ein behindertes Kind bekommt. Behinderung darf kein Tabuthema sein, auch nicht in der jüdischen Gemeinde!
Bei der letzten Therapie in der Slowakei haben wir eine behinderte Frau gesehen, die stärker davon betroffen war als Amili, und sie war schwanger! Das war für Amili und mich sehr wichtig. Wir haben gestaunt und gewusst: Es geht, es geht alles.
Eine Batmizwa ist immer etwas Besonderes. Bei Amili kommt etwas dazu. Sie sitzt im Rollstuhl. Amili ist das erste behinderte Mädchen, das hier in München in der orthodoxen Gemeinde mit einer richtigen religiösen Feier Batmizwa geworden ist. Sie hat etwas bewegt. Das hat damit zu tun, dass sie im Gemeindeleben präsent ist. Amili ist überall. Man sieht sie auf Festen, auf Fotos, sie ist Chanicha, sie singt im Chor.
Am Tag nach der Batmizwa habe ich zu Amili gesagt: »So, Amili, jetzt beeil’ dich und heirate schnell. Denn wenn ich alt bin, sind so große Feste zu viel für mich.« Es war wirklich ein sehr großes Fest.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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