von Ben Harris
Man konnte die Gruppe geradezu wachsen sehen. Als Kehilat Hadar 2001 zu seinem ersten Schabbatmorgengottesdienst an der Upper West Side von Manhattan zusammenkam, drängten sich in der Wohnung von Ethan Tucker, einem der drei Begründer des Minjans, 60 Menschen bis auf den Flur. Drei Wochen später waren es mehr als 100. »Es waren von Anfang an lauter ganz unterschiedliche Leute. Die Hälfte von ihnen kannte ich nicht«, sagt Tuckers Gründungskollege Rabbi Elie Kaunfer. »Das war der Punkt, als ich tatsächlich das Gefühl bekam, dass es sich um etwas Größeres handelte als nur um das Treffen einer Handvoll Freunde.«
Sieben Jahre später nehmen bei einem durchschnittlichen Schabbatgottesdienst von Hadar rund 200 Beter teil; 2.500 Menschen stehen auf der Adressliste. Inzwischen folgen in den USA 55 sogenannte unabhängige Minjanim dem Beispiel von Hadar. Allmählich beginnt auch die institutionelle jüdische Welt, von ihnen Notiz zu nehmen.
Anlässlich der zweiten Konferenz unabhängiger Minjanim trafen sich kürzlich Vertreter von Dutzenden Betergemeinschaften mit Akademikern und Gemeindefunktionären an der Brandeis University. Das Meeting bot Gelegenheit, darüber zu diskutieren, inwieweit diese Gemeinschaften für die etablierten jüdischen Organisationen ein Problem und zugleich eine Chance sind.
»Ich glaube, letzten Endes werden sich die Institutionen des amerikanisch-jüdischen Lebens verändern – ein Wandel, der notwendig ist und darüber entscheidet, wie das amerikanische Judentum im 21. Jahrhundert aussehen wird«, sagt Konferenzteilnehmerin Felicia Herman, Leiterin von Natan, einer Stiftung, die eine Reihe neu entstandener jüdischer Gemeinschaften unterstützt, darunter auch unabhängige Einrichtungen. »Das alles ist Teil eines Umgestaltungsprozesses. Wir helfen, eine neue Infrastruktur aufzubauen, aber wir haben keine Ahnung, wie sie aussehen wird.«
Obwohl die Minjanim ihrem Wesen nach von den Mainstream-Institutionen des religiösen jüdischen Lebens unabhängig sind, wachsen sie derart schnell, dass sie sich nicht länger ignorieren lassen. Im Normalfall werden die Gemeinschaften von Laien geleitet und erreichen mit unkonventionellen Formen des Gebets auch die schwer fassbare Altersgruppe von Juden in den Zwanzigern und Dreißigern. Männer und Frauen zwischen College-Abschluss und Heirat geraten häufig aus dem Sichtfeld der organisierten Gemeinschaft.
Ein Ableger der ursprünglichen Schabbatmorgen-Gebetsgemeinschaft von Hadar ist Mechon Hadar, die erste egalitäre Jeschiwa in den Vereinigten Staaten, in der Leiter für die rabbinerlosen Gemeinschaften ausgebildet werden.
Die meisten der Minjanim befinden sich im ideologischen Spektrum zwischen Orthodoxie und konservativer Bewegung. Sie haben neue Methoden entwickelt, den egalitären Impuls mit einem sonst traditionellen Gottesdienst in Einklang zu bringen. Nach Untersuchungsergebnissen definieren sich die meisten ihrer Mitglieder als konfessionell ungebundene Juden.
Sie streben eine stärkere Teilhabe der Mitglieder an und lehnen ab, was sie das »Konsummodell des Judentums« nennen – Gebühren an die Synagoge, die im Austausch dafür gewisse Dienstleistungen entrichtet. Die Gemeinschaften ohne rabbinische Führung sind für bestehende Strukturen eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. »Viele Juden entscheiden sich für ein Modell, bei dem sie sich als Mitgestalter jüdischen Lebens begreifen können«, sagt Rabbinerin Sharon Cohen Anisfeld, Dekanin an der rabbinischen Schule des Hebrew College in Newton Centre im US-Bundesstaat Massachusetts. »In einer Kultur der Vermarktung von allem und jedem ist das eine erstaunliche Leistung.«
Auch dem Rabbinat bereiten die Minjanim Kopfzerbrechen. Die meisten Gemeinschaften werden von enorm kenntnisreichen Laien geführt, die den Gottesdienst leiten, Toraerläuterungen liefern und zahlreiche Aufgaben übernehmen, für die traditionell der Rabbiner zuständig ist.
»Unabhängigkeit passt nicht zum protektionistischen Zunftwesen, das das amerikanische Rabbinat und die rabbinische Kreativität im Würgegriff hat«, sagt Tucker. Der Hadar-Mitbegründer spricht sich für Veränderungen in Rollenverständnis und Ausbildung der Rabbiner aus. Denn auf Dauer sei kein Minjan-Modell ohne irgendeine Form rabbinischer Führung überlebensfähig, meint Tucker.
Hier wie in vielen anderen Punkten lassen sich die unabhängigen Minjanim von der Havurat-Bewegung inspirieren, die in den 60er- und 70er-Jahren einen ähnlichen Anstieg solcher laiengeführter und autonomer Gemeinschaften auslöste. Sie waren eine Art jüdische religiöse Version der umfassenden Gegenkultur-Bewegung jener Zeit – mit einer Neigung zum Cliquenwesen.
Gegenwärtig sind nur einige der unabhängigen Minjanim um einen bezahlten rabbinischen Leiter organisiert, die meisten sind es nicht. Die Grundvoraussetzung für das anhaltende Wachstum der Minjanim sind gebildete Laien. »Die Ressource, deren es den Minjanim am meisten mangelt, sind nicht Dollars, sondern menschliches Kapital«, sagt Kaunfer. »Entscheidend für diese Gemeinschaften ist, dass die Verantwortung nicht bei einem Einzelnen liegt und auch nicht bei fünf Leuten.« Denn ihr Vorteil gegenüber der althergebrachten Gemeinde liege in der Vielfalt von Menschen.