von Nadja Cornelius
Vorbei am Pförtner erstreckt sich hinter der Schwingtür eine fast majestätische Eingangshalle – stuckverzierte Wände und Decken, Säulen mit verschnörkelten Kapitellen. Gedenktafeln zeigen den Besuchern, daß sie sich nicht geirrt haben, sondern im Haus der jüdischen Gemeinde in Riga stehen. Vier Stockwerke hoch ist das Gebäude des ehemaligen Jüdischen Theaters, das den Nazis als Offiziersklub und den Sowjets als »Institut für Marxismus und Leninismus« diente, bis es 1988 schließlich wieder der jüdischen Gemeinschaft Lettlands zurückgegeben wurde. Ganz oben befindet sich das Büro von Gita Umanovska, der Direktorin der Rigaer jüdischen Gemeinde. Sie ist ein Paradiesvogel im lettischen Straßenbild – die Frisur toupiert, die Haare feuerrot, eine Frau mit kehliger Stimme und einer offenkundigen Vorliebe für extravagante Ohrringe. Eine schillernde Persönlichkeit also, die sich selbst als lettische Patriotin bezeichnet. Daß sie ihre Arbeit liebt, merkt man sofort.
»Die Anfangsjahre waren spannend«, sagt Umanovska. Anfang der 90er Jahre hielten viele interessante Persönlichkeiten aus Israel Vorträge in Riga. Umanovska war damals auch dabei. »Die Säle waren voll, die Leute saßen auf dem Fußboden und kletterten an den Säulen hoch, um etwas Jüdisches zu erfahren«, erinnert sie sich. Alle schwärmten vom neuen Lebensgefühl. Die weite Welt hielt Einzug in die ehemalige Sowjetrepublik. Umanovska arbeitete damals als Freiwillige für die Gemeinde: Sie organisierte Feste, Veranstaltungen und gründete den »Klub für intellektuelle Spiele«.
Vor der Schoa lebten rund 93.000 Juden in Lettland. Lediglich ein Prozent überlebte. Unter Stalin wurden sie in Massen nach Sibirien deportiert. Es folgten 50 Jahre Sowjetzeit ohne jedes gesellschaftliche jüdische Leben. Erst 1988, während der Perestroika, wurde in Riga wieder eine »Jüdische Kulturgemeinschaft« gegründet. Vier Jahre später entstand daraus die jüdische Gemeinde der Stadt. Außerhalb Rigas entwickelten sich weitere Gemeinden, zum Beispiel Daugavpils, mit 500 Mitgliedern die zweitgrößte im Land. 2003 wurde der »Rat der jüdischen Gemeinden Lettlands« gegründet, als Dachorganisation, die zwölf jüdische Institutionen – religiöse und säkulare – in acht Städten vereint und auf nationaler Ebene vertritt. Vorsitzender des Rates ist Arkady Suharenko. Der Bankier akquirierte gezielt Sponsoren in jüdischen Unternehmerkreisen. Seither ist die lettische Gemeinde finanziell unabhängig – eine Besonderheit in Osteuropa.
»Unser Selbstverständnis hat sich damals verändert«, erzählt Umanovska stolz. »Waren wir vorher Bittsteller bei verschiedenen internationalen Fonds, entwickelten wir uns nun zum gleichberechtigten Partner.« Umanovska selbst erhielt damals das Angebot, auf das sie lange gewartet hatte: Die studierte Germanistin sollte offiziell für die jüdische Gemeinde arbeiten. Sie zögerte keine Sekunde und beendete ihre Tätigkeit als Sprachlehrerin. »Seither bin ich professionelle Jüdin!«, sagt sie und lacht.
Die wichtigste Aufgabe des Rates sei die Rückgabe des Eigentums, das bis 1940 der jüdischen Gemeinschaft gehörte, sagt Umanovska. Man habe eigens eine Arbeitsgruppe gebildet und ein entsprechendes Gesetz entwickelt. Nach den Wahlen am vergangenen Samstag werde sich die Saeima, das lettische Parlament, bald damit auseinandersetzen, hofft Umanowska. »Wenn der Prozeß der Entschädigung so verläuft, wie wir es planen, dann können wir vielleicht auch anderen jüdischen Gemeinden außerhalb Lettlands helfen«, sagt sie.
Heute gibt es offiziell rund 10.000 Juden in dem baltischen Land. Die Behörden registrieren die ethnische Herkunft. Kinder aus Mischehen haben die Wahl: Sie müssen sich entweder für die Nationalität der Mutter oder des Vaters entscheiden. Umanovska schätzt, daß tatsächlich etwa doppelt so viele Juden in Lettland leben. »Was die Zahl der Juden betrifft, steht Riga im Vergleich zu den anderen Städten der ehemaligen Sowjetunion an zehnter Stelle.« Das ist auch geschichtlich bedingt: Schon zur Zeit des Zarenreichs galt Riga als eine der für Juden liberalsten Städte Europas.
Die jüdische Gemeinde der lettischen Hauptstadt trägt der besonderen Situation des Baltenstaates Rechnung: Nur wenig mehr als die Hälfte der etwa zwei Millionen Einwohner sind Letten, der Rest setzt sich zum größten Teil aus Russen zusammen. Darüber hinaus gibt es weißrussische, ukrainische und polnische Minderheiten.
Dem Thema Integration wird in Lettland besondere Bedeutung beigemessen. Die jüdische Gemeinde fühle sich nicht nur ihrer eigenen, sondern der Integration aller ethnischen Minderheiten im Lande verpflichtet, sagt Umanovska. »Die Juden haben eine lange Erfahrung. Seit 2.000 Jahren wissen sie, wie man zwischen verschiedenen Völkern lebt – das wollen wir weitergeben.« Etwa durch das aktuelle Projekt »Von Herz zu Herz«, in dem die jüdische Gemeinde Veranstaltungen für lettische Schüler und Lehrer organisiert. Mit diesen und anderen Initiativen soll in der lettischen Gesellschaft Verständnis für jüdische Kultur und Geschichte gefördert werden.
Den für Lettland typischen Sprachenkonflikt um die Dominanz des Lettischen oder Russischen hat man in der jüdischen Gemeinde hinter sich. Während der Sowjetzeit kamen sehr viele russischsprachige Juden nach Lettland. Und auch heute sind gerade mal um die hundert Gemeindemitglieder lettische Muttersprachler. »Wenn wir unter uns sind, dann sprechen wir Russisch«, sagt Umanovska, »denn das ist eine der Sprachen, in der die jüdische Kultur geschaffen wurde.« Daß heute immer mehr Veranstaltungen nur auf Lettisch stattfänden, störe aber inzwischen niemanden mehr, sagt sie. In der jungen Generation sprächen heute ohnehin alle Lettisch, nur für die Alten sei das oft etwas schwierig. Trotz aller Aktivitäten hat die jüdische Gemeinschaft in dem kleinen Baltenstaat auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen. »Die jungen Leute heute haben neben Ausbildung und Karriere kaum noch Zeit, jüdische Freunde und Lebenspartner zu finden«, erzählt Victoria Gubatova vom Gemeindezentrum Alef in Riga. Doch man tue, was man könne, schließlich gehe es um die Zukunft des Judentums in Lettland. Neben regelmäßigen Klubabenden und Partys organisiert Gubatova zusammen mit ihrer Kollegin jeden Sommer das »Fest der Liebe« (Jüdische Allgemeine vom 7. September). Die Mädchen reisen in blütenweißen Kleidern an und die Jungen mit Westen und eleganten schwarzen Hüten, erzählt sie. Das Fest sei eine alte jüdische Tradition, die vor fünf Jahren wiederbelebt wurde. »Mit Erfolg«, sagt Gubatova. »Inzwischen haben wir schon 17 jüdische Hochzeiten zu verzeichnen!«