Die Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, hat der Politik eine Bagatellisierung antisemitischer Vorfälle und rechtsextremistischer Exzesse vorgeworfen. Ereignisse wie die Demütigung eines Schülers in Sachsen-Anhalt oder die inszenierte Verbrennung des Tagebuchs von Anne Frank im Sommer seien keine Einzelfälle, sondern nur die Spitze des Eisbergs. »Die nach solchen Vorfällen übliche Betroffenheitsdebatte von Verantwortlichen in Politik, Gesellschaft und Medien ist empörend und zudem eine Verhöhnung all jener, die sich aktiv gegen Rechtsextremismus engagieren«, sagte Knobloch am Montag. Die Rechten seien für die Gesellschaft nicht erst eine Gefahr, wenn sie in den Parlamenten sitzen. Aber selbst das stoße zunehmend auf Verständnis und immer offenere Zustimmung.
Ähnlich äußerte sich der Vizepräsident des Zentralrats, Dieter Graumann. »Die dramatische Häufung rechtsextremistischer Übergriffe in jüngster Zeit kommt nicht von ungefähr.« Die »völlig mißglückte« Reaktion des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, nach der Verbrennung des Tagebuchs der Anne Frank in Pretzien sei ein trauriges Beispiel für die Hilf- und Ratlosigkeit vieler Politiker. »Sie war inhaltlich nicht nur beschämend, sondern mußte von all jenen geradezu als Bestätigung aufgefaßt werden, die wegsehen statt eingreifen.« Nach Auffassung des Zentralrats hat die Landesregierung von Sachsen-Anhalt nicht nur Pretziens Bürgermeister, unter dessen Augen die Bücherverbrennung stattfand, ausdrücklich in Schutz genommen, sondern bis heute keine erkennbaren Konsequenzen für die Bildungs- und Jugendarbeit in dem Bundesland gezogen. »Wer aber die Bildungs- und Jugendarbeit immer häufiger dem finanzpolitischen Kahlschlag opfert, der darf sich nicht wundern, daß ganze Generationen von Jugendlichen und Kindern in extremistische Lager abrutschen und Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zur Normalität werden«, sagte Graumann.
Offenbar ist die Zahl rechtsextremer Straftaten in den vergangenen Monaten drastisch gestiegen. Unter Berufung auf Antworten des Bundesinnenministeriums
auf monatliche Anfragen der Linksfraktion berichtete der Berliner Tagesspiegel am Dienstag, das Bundeskriminalamt habe von Januar bis Ende August fast 8.000 rechte Straftaten registriert. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sei dies eine Steigerung um mehr als 20 Prozent. Damals zählte die Polizei 6.605 solcher Delikte. Zudem habe die Brutalität der Szene zugenommen. Von Januar bis August zählte die Polizei dem Bericht zufolge bundesweit 452 rechte Gewalttaten, bei denen 325 Menschen verletzt worden seien. In den ersten acht Monaten des Vorjahres seien es 363 Gewaltdelikte mit 302 Verletzten gewesen.
Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Sebastian Edathy (SPD), forderte, daß die demokratischen Parteien, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Verbände und Sportvereine nach dem Vorbild des Integrationsgipfels über eine Strategie gegen den Rechtsextremismus nachdenken sollten. Bei Union und Grünen stieß die Idee eines »Demokratiegipfels« auf Widerstand. Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach sagte dem Tagesspiegel, er setze auf eine Kombination aus Strafverfolgung, Hilfe für Szene-Aussteiger und politische Bildung. Nach Ansicht der Grünen-Chefin Claudia Roth sollte die Regierung statt einer »Gipfelei« die Förderung zivilgesellschaftlicher Projekte gegen Rechts sicherstellen. Ch.B.
Rechtsextremismus