von Bill Hinchberger
Die Einzelheiten der Mission des Rabbiners Shalom Emmanuel Muyals und seines Todes in der brasilianischen Provinz Amazonas liegen bis heute im Dunkeln, doch das ist nichts verglichen mit dem Rätsel, das den Rabbiner seit seinem Ableben umgibt. Hiesige Katholiken nennen ihn Santo Judeu Milagreiro de Manaus – den heiligen jüdischen Wundertäter von Manaus. Viele Christen, die seinen Geist für zaubermächtig halten, besuchen sein Grab.
Die Anziehungskraft des Rabbis ist so stark, daß die Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde Manaus’ sich gezwungen sahen, die Bitte seines Neffen, der Mitglied der Knesset ist, Muyals sterbliche Überreste nach Israel zu überführen, abzulehnen.
Niemand kann mit Sicherheit sagen, wieso Muyal im Jahr 1908 von Marokko an den Amazonas in Brasilien reiste. Am wahrscheinlichsten ist die Version, daß er vom marokkanischen Oberrabbiner gesandt worden war, um mit den Glaubensbrüdern im Regenwald Kontakt aufzunehmen.
Marokkanische Juden, meist Nachfahren von Flüchtlingen, die von der Inquisition aus Spanien vertrieben worden waren, begannen im frühen 19. Jahrhundert nach Brasilien auszuwandern. Mit dem Kautschukboom um die Jahrhundertwende kam es zu einer zweiten Auswanderungswelle. Konkrete Zahlen sind schwer festzumachen, doch waren es wahrscheinlich um die 1.000 marokkanisch-jüdische Familien, die sich laut dem Journalisten und Historiker Reginaldo Jonas Heller, Autor einer Studie über das Phänomen, im 19. und frühen 20. Jahrhundert am Amazonas niederließen.
Wie alle Amazonas-Reisenden zu jener Zeit machte Muyal die Stadt Belém an der Mündung des Flusses zum Ausgangspunkt seiner Expedition und arbeitete sich allmählich stromaufwärts. 1910 hatte er die knapp 1.000 Meilen bis nach Manaus zurückgelegt. Die Stadt mit damals 50.000 Einwohnern hatte – in den Worten des deutschen Anthropologen Theodor Koch-Grünberg, der einige Jahre vor dem Rabbiner durch Manaus gekommen war – in den vorangegangenen Jahrzehnten des Kautschukbooms ein »beinahe nordamerikanisches« Tempo entwickelt. Im Buch »Zwei Jahre bei den Indianern Nordwest-Brasiliens« warnte Koch-Grünberg vor einem gefährlichen »Manaus-Fieber, das fast jedes Jahr eine Anzahl Ausländer tötet«. Muyal steckte sich an, wahrscheinlich am Gelbfieber. Er starb am 10. März 1910.
Manaus besaß bis in die Zwanzigerjahre keinen jüdischen Friedhof. Daher wurde Muyal bei den Nichtjuden auf dem städtischen Friedhof São João Batista begraben. Um der Tradition Genüge zu tun, bauten Mitglieder der jüdischen Gemeinde eine kleine Mauer um das Grab. Der Grabstein weist hebräische und portugiesische Inschriften auf. Der Tod durch Gelbfieber ist grauenhaft. Kennzeichen sind Gelbsucht, durch die sich das Weiße in den Augen und die Haut gelb verfärben, und schwarzes Erbrochenes, dessen dunkle Färbung von Blut herrührt.
Alle Berichte stimmen darin überein, daß niemand am Sterbebett des Rabbiners verweilen wollte – niemand außer einer Frau namens Cota Israel, die Muyal bis zu seinem Tode getreulich pflegte. Nach dem Tod des Rabbis entwickelte Cota Israel ein Talent, Menschen zu helfen, die Probleme mit der Muskulatur oder den Knochen hatten – Verspannungen, verrenkte Knöchel und Knie, Knochenbrüche und Rückenschmerzen.
»Sie war eine einfache Frau, die anfing, Menschen so zu behandeln, wie es heute ein Physiotherapeut tun würde«, sagt der Arzt Isaac Dahan, der in der jüdischen Gemeinde Manaus’ auch das Amt des Vorbeters versieht. Als man sie fragte, wie sie es mache, habe Israel zur Antwort gegeben, sie sei von Muyal gesegnet worden.
Es gibt keine Belege dafür, ab wann dem Rabbiner selbst die Kraft, Wunder zu wirken, zugeschrieben wurde: Aber Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Manaus, die in den 1930er Jahren geboren wurden, erinnern sich, als Kinder Geschichten über ihn gehört zu haben.
Dutzende dankbare Empfänger seiner Hilfe haben am Grab des Rabbiners Täfelchen angebracht. Die meisten geben einfach bekannt, daß eine »graça alcançada«, daß ein Wunder stattgefunden habe, ohne in Einzelheiten zu gehen. Die meisten weisen kein Datum auf, das älteste mit einem Datum stammt vom 18. Juli 1975. Einige Jahre später, um 1980, erfuhr ein Mitglied des israelischen Parlaments namens Eliahu Moyal durch einen Freund von dem wundertätigen Rabbiner in Brasilien. Moyal kam zu dem Schluß, daß der Mann sein längst verloren geglaubter Onkel sein müsse.
Er sandte einen Brief an das Amazonas Israelite Committee in Manaus mit der Bitte, die sterblichen Überreste seines Onkels nach Israel überführen zu dürfen, um sie dort zu beerdigen. Nach reiflicher Überlegung lehnten die Gemeindeführer Moyals Bitte zu ihrem Bedauern ab. »Wie hätten wir das tun können? Er ist zu einem Heiligen geworden«, sagt Dahan. »Wir dürfen ihn nicht einmal auf unseren eigenen Friedhof nebenan überführen.«
Noch immer pilgern Christen zum Grab, zünden Kerzen an und bringen Dankesopfer. Als der Grabstein einen Riß bekam, ersetzten ihn die Gemeindeverantwortlichen durch einen identischen Stein und zogen einen Zaun um das Grab. Sie stellten auch einen kleinen Tisch auf, wo die Pilger ihre Kerzen aufstellen können. Viele aber stecken die Arme durch den Zaun, um ihre Kerzen so nah wie möglich am Grab aufzustellen.
Viele Mitglieder der Jüdischen Gemeinde von Manaus, die 200 Familien umfaßt, finden das Phänomen zwar ein bisschen bizarr, aber sie gönnen den Katholiken ihren heiligen Rabbiner. »In der Stadt, in der wir leben, darf niemand einen Glauben geringschätzen«, meint Dahan.