von Peter Bollag
Seltsame Szenen an einem Juli-Sonntag in Währing, dem 18. Wiener Bezirk: Auf einem von hohen Mauern umgebenen und eigentlich unzugänglich wirkenden Areal, von typischen Wiener Wohnkasernen begrenzt, befreien Menschen umgefallene und teilweise verwitterte Grabsteine von Gestrüpp und Unkraut, legen Wege frei und achten sorgsam darauf, nicht auf eines der zahlreichen Gräber zu treten. Die 15 Männer und Frauen sind Angehörige des amerikanischen diplomatischen Korps in Österreich sowie hier lebende Marinesoldaten, die sich nach einer Führung über den jüdischen Friedhof spontan entschlossen hatten, zu helfen und so zu versuchen, den eigentlich seit den späten 90er-Jahren für die Öffentlichkeit gesperrten Guten Ort teilweise wieder instand zu setzen. Die Motorsägen, Äxte und Gartenscheren haben sie von zu Hause mitgebracht.
Dass sie mit ihrer Hilfsbereitschaft gleichzeitig in ein Wespennest getreten sind, ahnen sie möglicherweise nicht. Denn der schlechte Zustand des Jüdischen Friedhofs von Währing, 1784 eröffnet und bis 1874 benutzt, stellt der Kulturnation Österreich, sonst um die Pflege von historischen Denkmälern und Gedenkstätten überaus besorgt, ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Mehr noch: Dieser schlechte Zustand verstößt gegen geschlossene Abkommen. Zumindest gegen das Washingtoner Abkommen von 2001, indem sich Österreich verpflichtet hat, die »Restaurierung und Erhaltung jüdischer Friedhöfe« zu unterstützen.
Umgesetzt freilich wurde diese Verpflichtung zumindest in Währing nicht, obwohl der Friedhof ein historisches Denkmal ist. Hier ruhen Persönlichkeiten, die die Emanzipation der Juden im Wien des 18. und 19. Jahrhunderts symbolisierten: die Bekannteste ist Fanny Freifrau von Arnstein, eine liberale jüdische Frau, in deren Salon sich »toute Europe« nicht nur während des Wiener Kongresses von 1814/15 traf. Ihr Grabstein liegt teilweise zerbrochen im Gras.
Dass das Washingtoner Abkommen hier bisher nicht zur Anwendung kam, hat sicher auch finanzielle Gründe. Denn für eine Gesamtsanierung der rund 8.000 Gräber und Grüfte werden zwischen 10 und 15 Millionen Euro benötigt. Wer wie viel wofür zahlen soll, darum streitet sich die Stadt Wien mit der östereichischen Bundesregierung seit Jahren. »Eine Stiftungslösung, die auch private Geldgeber involviert hätte, ist gescheitert«, weiß Tina Walzer. Die Historikerin befasst sich seit zwölf Jahren wissenschaftlich mit dem Währinger Friedhof. Im Auftrag der Israelitischen Kultusgemeinde und des »Zukunftsfonds« der Republik ist sie gegenwärtig dabei, eine Liste mit allen Gräbern zu erstellen.
Daneben macht sie auch Lobbyarbeit für die Erinnerungsmale jener 30.000 Menschen, die auf dem 20.000 Quadratmeter großen Währinger Friedhof begraben sind – und deren Totenruhe erstaunlicherweise auch von den Nazis fast nicht gestört wurde. Zwar wurden in jenen dunklen Jahren 200 Skelette für »rassekundliche Forschungen« ausgegraben, wie Tina Walzer herausgefunden hat, doch der Friedhof als Ganzes blieb verschont.
Umso schlimmer wäre es, wenn dieses Denkmal aus dem Biedermeier sich langsam auflösen würde – etwa durch umstürzende Bäume, die schon zahlreiche Grabsteine zerstört haben.
Aber vielleicht bringt die gute Sonntagstat der Amerikaner nun doch Leben in die Situation: Die österreichischen Grünen, sonst zwar nicht unbedingt als USA-freundlich bekannt, stehen als einzige Partei konsequent für die Sanierung des Friedhofes ein und bejubeln die Aufräumaktion. Von einer »(gesellschafts-)politischen Ohrfeige« für die Republik Österreich und ihr Geschichtsverständnis schreibt die Tageszeitung Der Standard. Und weil österreichische Politiker »Watschen« aus dem Ausland nun überhaupt nicht mögen, hat die Historikerin Tina Walzer wieder Hoffnung für den Friedhof. Dennoch: »Von einer Rettung kann keine Rede sein.«