von Ron Steinke
Vielleicht wird er in der Gemeinde St. Vladimir’s in Cleveland, wo man ihn als regelmäßigen Kirchgänger kennt, vermisst. Die US-Behörden jedenfalls freuen sich, nach jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen Iwan »John« Demjanjuk demnächst endlich ausfliegen zu kön- nen. Der 88-jährige gebürtige Ukrainer, der als Aufseher im Konzentrationslager Sobibór mutmaßlich an der Ermordung von mindestens 29.000 Juden beteiligt war, soll bald nach Deutschland ausgeliefert werden.
Die Voraussetzung dafür schuf am Mittwoch der vergangenen Woche die Staatsanwaltschaft beim Landgericht München I, indem sie einen internationalen Haftbefehl gegen Demjanjuk erließ. Darauf hatte das amerikanische Office of Special Investigations (OSI), das die Ermittlungen gegen NS-Verbrecher in den USA leitet, seit fast einem Jahr gewartet.
Mit dem Haftbefehl endet eine lange Auseinandersetzung. Zunächst hatte die Münchner Staatsanwaltschaft die Zuständigkeit für den Fall von sich gewiesen. Erst der Bundesgerichtshof musste sie im vergangenen Dezember dazu verpflichten, die Ermittlungen aufzunehmen. Doch auch danach antwortete die Münchner Behörde auf Nachfragen nur zögerlich: Man müsse doch schauen, ob das zentrale Beweisstück gegen Demjanjuk, sein SS-Dienstausweis, tatsächlich echt sei.
Das Zögern befremdet Eli Rosenbaum, den Direktor des OSI. Im Februar war er eigens nach Deutschland gereist, um sich zu informieren. »Demjanjuks Dienstausweis ist vielleicht das am häufigsten überprüfte Beweisstück in der Geschichte der Strafverfolgung«, sagte er jüngst dem Nachrichtenmagazin Spiegel. Ein Sprecher der Münchner Staatsanwaltschaft entgegnet, drei pensionierte BKA-Beamte hätten Zweifel an der Echtheit des Ausweises vorgebracht, die man hätte prüfen müssen. »Nun stellen Sie sich vor, der Verteidiger sagt vor Gericht, der Ausweis ist nicht echt.«
Diese Zweifel versteht Rosenbaum nicht. Forensische Experten in Israel und den USA haben die Echtheit des Ausweises bereits vor Jahren geprüft, nämlich im Rahmen des ersten Verfahrens gegen Demjanjuk. 1986 war er schon einmal von den USA ausgeliefert worden, damals nach Israel. Der Angeklagte war neben Adolf Eichmann die einzige Person, gegen die in Israel je die Todesstrafe verhängt wurde. 1993 hob der Oberste Gerichtshof in Jerusalem das Urteil jedoch auf. Dass Demjanjuk als SS-Mann Aufseher in verschiedenen Vernichtungslagern war, galt zwar als erwiesen – dafür wurde er auch verurteilt –, aber dass er mit dem berüchtigten KZ-Aufseher »Iwan dem Schrecklichen« identisch ist, war nach Meinung der obersten israelischen Richter letztlich nicht sicher, sogar unwahrscheinlich. Da ihm die amerikanische Untersuchungshaft angerechnet wurde, musste Demjanjuk nicht in ein israelisches Gefängnis, sondern er flog zurück in die USA.
Kommt es nach einer Auslieferung Demjanjuks zu einer Anklage in München, so könnte der Prozess der letzte seiner Art sein, zumindest hierzulande. Parallel läuft derzeit, ebenfalls in München, noch das Verfahren gegen einen anderen mutmaßlichen NS-Täter. Der 90-jährige Josef Scheungraber muss sich derzeit wegen 14-fachen Mordes verantworten. Er soll 1944 in Italien ein Massaker an Zivilisten befohlen haben. Bereits 2006 wurde er von einem italienischen Militärgericht verurteilt, Deutschland lieferte ihn jedoch nicht aus. Ein Urteil ist auch nach sechs Monaten und 23 Verhandlungstagen noch nicht in Sicht.
Davor war im Jahr 2004 in Hamburg gegen den ehemaligen SS-Sturmbannführer Friedrich Engel verhandelt worden, der die Ermordung von 246 Geiseln im besetzten Italien anzuordnen hatte. Der Bundesgerichtshof stellte das Verfahren letztlich im Hinblick auf das hohe Alter des Angeklagten ein – ungeachtet der Tatsache, dass bestimmte Taten nie verjähren.
Auf eine entsprechende Verteidigungsstrategie scheint sich derzeit auch Demjanjuk vorzubereiten. Seine Familie und sein Anwalt erklärten in den vergangenen Tagen gegenüber amerikanischen Medien, Demjanjuk sei gesundheitlich zu schwach, um eine Gerichtsverhandlung durchzustehen. Auch ein Sprecher des deutschen Justizministeriums lässt auf Nachfrage bereits anklingen, eine Verurteilung Dem- janjuks könne im Hinblick auf das hohe Alter »vielleicht problematisch« werden. Zur Reise nach Deutschland halten die US-Behörden Demjanjuk jedoch für fähig. Dem geplanten Flug mit einer Linienmaschine nach München, bei dem Demjanjuk von einem Polizisten und einem Arzt begleitet werden soll, dürfte also nichts mehr im Wege stehen.