von Sue Fishkoff
Drei Dutzend Rabbiner und Kantoren sitzen in stiller Meditation in einem sonnendurchfluteten Raum auf dem Brandeis-Bardin-Campus der American Jewish Univer- sity in der südkalifornischen Kleinstadt Simi Valley. Sie öffnen die Augen, und Rabbinerin Sheila Weinberg führt sie durch eine Übung, durch die sie lernen sollen, auf den eigenen Körper zu achten. »Fühlen Sie, wie viel Raum es in Ihrem Körper gibt, wie viel Lebendigkeit!«, drängt sie.
Später sprechen die Geistlichen über ihre Ängste und Gefühle bei der Bewältigung ihrer Aufgaben in der Gemeinde. Eine Rabbinerin schildert, wie verletzlich sie sich fühlt, wenn sie in ihren Gottesdienst eine neue Melodie einführen will. Manchmal, gesteht sie, vermeidet sie Neuerungen aus Angst vor dem Widerstand der Gemeindemitglieder. Ein Rabbiner erzählt, er weine oft selbst, wenn er einen Trauernden tröstet. Er fragt sich, ob er als Rabbiner seine Gefühle nicht besser verbergen sollte. Die anderen im Raum nicken verständnisvoll. »Wenn die Seele bewegt ist, ist sie eben bewegt«, sagt Weinberg.
Diese Geistlichen – viele von ihnen sind führende Rabbiner der Reform-, konservativen, Rekonstruktionisten- oder der jüdischen Erneuerungsbewegung – verbringen fünf Tage in einer Klausur für kontemplative Übung, die vom Institut für jüdische Spiritualität organisiert wird. Seit Januar 2000 betreibt das New Yorker Institut Klausuren für hunderte Rabbiner, Kantoren und jüdische Erzieher. Organisiert in konfessionsübergreifenden Gruppen, kommen die Teilnehmer über einen Zeitraum von 18 Mo- naten viermal für fünf Tage zusammen.
Die Gruppe in Simi Valley gehört zu den mehr als zweihundert Absolventen früherer Klausuren. Noch einmal haben sie ihre Kanzel für fünf Tage verlassen, um zu meditieren, Yoga zu machen, über ihre Gefühle bei der Arbeit zu sprechen und chassidische Texte zur Spiritualität zu studieren. Sie kommen nicht, um zu lernen, wie sie ihre Arbeit besser machen können, sondern um spirituell Kraft zu schöpfen und ihre Seele zu erneuern.
Die Gemeinden erwarten viel von ihren Geistlichen. Ein Rabbiner muss unerschütterliche geistige und moralische Stütze, überzeugender Redner, sachkundiger Verwalter und kreativer Neuerer sein. Er muss in der Tora bewandert, gütig zu den Kindern und immer bereit sein, sich mit mächtigen Gemeindevorständen anzulegen. Vor allem darf er keine persönlichen Bedürfnisse haben. »Bis zu einem gewissen Grad suchen Gemeinden noch immer nach dem Rabbiner mit übermenschlichen Kräften«, sagt Levi Moreofsky, Direktor für Rabbinerausbildung am Center for Jewish Future der Yeshiva University in New York. »Immer noch herrscht die Auffassung, der Rabbiner wisse und könne alles.« Diese Vorstellung gerät zunehmend unter Beschuss. Es wächst die Erkenntnis, dass auch Geistliche einen Platz brauchen, wo sie neue Kraft tanken können.
In den vergangenen Jahren haben Rabbinerseminare und eine Reihe von jüdischen Organisationen damit begonnen, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Sie bieten Führungskurse für Rabbiner und – in geringerem Umfang – für Kantoren. Ziel dieser Kurse ist die Verbesserung der Arbeit in der Gemeinde. Angeboten werden Meditation, Beratungsgespräche unter vier Augen und Diskussionsrunden, in denen die Geistlichen ihre Klagen im Kollegenkreis, weit entfernt von den neugierigen Ohren ihrer Gemeinden, loswerden können.
»Das alles ist eine vergleichsweise neue Entwicklung«, sagt Rabbiner Hayim Herring, geschäftsführender Direktor des Programms »STAR/ Synagogues: Transformation and Renewal« (Umgestaltung und Er- neuerung). Rabbiner sind laut Herring be- rüchtigt dafür, dass sie sich selbst vernachlässigen, und Klausurteilnehmer müssen »öffentlich geloben«, dass sie die angebotenen Programme für Sport, Yoga oder Ähnliches wahrnehmen werden. Einige haben aufgrund ihrer Teilnahme an dem Programm »ihr Leben geändert«, berichtet Herring.
Auch das Jewish Theological Seminary der Konservativen betreibt seit 23 Jahren Trainingskurse für Rabbiner. Jedes Jahr schafft das Seminar 60 Rabbiner an einen abgelegenen Ort, damit sie sich eine Woche lang der beruflichen und persönlichen Entwicklung widmen können. Laut Rabbiner Marc Wolf, der das Programm leitet, konzentrieren sich die Abende auf Diskussionen über persönliche und spirituelle Bedürfnisse in kleineren Gruppen. »Rabbiner leiden oft unter einer Erschlaffung ihrer Fähigkeit zum Mitfühlen«, sagt Wolf. »Sie verwenden in ihrem beruflichen Leben die gleichen Fähigkeiten wie in ihrem persönlichen Leben. Eine Klausur bietet ihnen eine wichtige Auszeit.«
Laura Geller aus Beverly Hills gehörte zur ersten Gruppe vor acht Jahren. Davor hatte sie sechs Jahre als Rabbinerin bei einer Reformgemeinde hinter sich. »Als Rabbiner, vor allem bei einer großen Gemeinde, ist es sehr leicht, geistig zu verdorren, ohne es zu merken«, sagt sie. »Die Möglichkeit, mich mal zurückzuziehen, hat mir die Fähigkeit gegeben, mich um meine eigene Seele zu kümmern.« Die Klausur habe ihr geholfen, ihr Verhältnis zu Gott und zum Gebet als wichtigen Teil dessen zu erkennen, was sie ist: Jüdin, Rabbinerin und Lehrerin. In den Klausuren lernte Geller, still zu sein – etwas, was Rabbinern nicht immer leicht fällt. Geller drosselte das Tempo und lernte zuzuhören, statt sich auf ihre rhetorischen Fähigkeiten zu verlassen.