Herr Zimmermann, spielt der 9. November 1938, der Tag der »Reichskristallnacht«, im offiziellen Gedenken Israels überhaupt eine Rolle?
zimmermann: Das Gedenken an die Schoa ist in Israel fest an Auschwitz gebunden, nicht an die »Reichskristallnacht«. Auschwitz überschattet alles, was vorher geschah, denn dieser Ort steht für die systematische Ermordung der europäischen Juden. Außerdem bringen wir die »Kristallnacht« mit unangenehmen Dingen in Verbindung – sie steht für Pogrome, das heißt, für strukturelle Gewalt, und wir Israelis müssten uns fragen, was wir den Arabern antun. Das ist heikel.
Sie wollen Gewalt gegen Palästinenser mit der »Kristallnacht« gleichsetzen?
zimmermann: Die »Kristallnacht« war von oben organisiert und kein Ausbruch spontaner Gewalt. Aber es gab eben auch Initiativen »von unten«, von der Bevölkerung. Und das, was zum Teil in Hebron und anderen Teilen des Westjordanlandes passiert, diese Gewalt »von unten« gegen Araber und gegen deren Eigentum – damit sollten wir uns auseinandersetzen.
Heißt das, man gedenkt des 9. November dewegen nicht, weil es mit Blick auf die Gegenwart zu heikel wäre?
zimmermann: Nein, in der öffentlichen Debatte wird dieser Zusammenhang nicht hergestellt. Anlässlich des 70. Jahrestages finden in Israel ja auch einige Gedenkfeiern zum 9. November statt. Die meisten gehen allerdings auf die Initiative deutscher Einrichtungen zurück.
Viele der Überlebenden, die in Israel Zuflucht fanden, stammten aus Osteuropa. Für sie beginnt die Schoa mit dem Krieg gegen Polen, spätestens mit dem deutschen Feldzug gegen die Sowjetunion. Hat deshalb der 9. November in Israel so wenig Bedeutung?
zimmermann: Das meine ich mit: Auschwitz überschattet die Erinnerung an die Verfolgung der Juden. Für deutsche Juden war die »Kristallnacht« der Wendepunkt. Für die Israelis ist aber von Bedeutung, was mit den osteuropäischen Juden geschah und nicht, was den deutschen Juden widerfuhr.
In Ihrem neuen Buch »Deutsche gegen Deutsche« widmen Sie sich aber vor allem den deutschen Juden.
zimmermann: Der 9. November war zwar ein Wendepunkt für die meisten Juden, aber sie verschwanden ja auch nicht von einem Tag auf den anderen aus Deutschland. Mir ist ein noch völlig vernachlässigter Teil der Geschichte wichtig, nämlich, was den deutschen Juden nach der »Kristallnacht« geschah: Wie deutsche Staatsbürger ausgegrenzt wurden. Den gelben Stern mussten sie erst ab September 1941 tragen, danach begannen die Deportationen. Das Pogrom vom 9. November war aus Sicht einiger Machthaber eher ein Betriebsunfall.
Wie meinen Sie das?
zimmermann: Wichtig sind die Diskussionen, die am 12. November im Reichsluftfahrtministerium Hermann Görings stattfanden, der ja auch Beauftragter für den Vier- jahresplan war (vgl. S. 5). Göring kritisierte das Pogrom heftig, das auf das Konto des Propagandaministers Joseph Goebbels ging. Es seien »zu viele Werte«, sprich materielle Werte, vernichtet worden. In dieser Sitzung wurde der Weg zur »Endlösung der Judenfrage« festgelegt: die Arisierung jüdischen Besitzes, die systematische Ausbeutung, die Propaganda, mit der jüdische Staatsbürger aus dem sogenannten Volkskörper ausgegrenzt wurden, sodass am Ende die Vernichtung stand.
Gedenken scheint in Israel generell nicht an ein bestimmtes historisches Datum gebunden zu sein.
zimmermann: Das stimmt. Auch Daten wie beispielsweise der Tag der Befreiung von Auschwitz spielen keine große Rolle. Erst in den vergangenen Jahren geriet der 27. Januar in den Blickpunkt, weil er international als Holocaust-Gedenktag gilt.
Wie erklären Sie sich das?
zimmermann: Jom Haschoa, der Holocaust-Gedenktag, findet nach Pessach statt. Dabei orientierten wir uns am Aufstand im Warschauer Ghetto, der ja auch Pessach 1943 begonnen hatte. Gerade für das Selbstverständnis des jungen Staates Israel war es besonders wichtig, einen heroischen Akt in den Mittelpunkt zu stellen und zu betonen, dass die Juden nicht wie Lämmer zur Schlachtbank geführt wurden.
Der Jom Haschoa findet aber auch kurz vor dem Unabhängigkeitstag statt.
zimmermann: Es ist eine Gedenkkette: Zuerst Pessach mit der Erinnerung an das Ende der Sklaverei und den Auszug aus Ägypten. Dann Jom Haschoa, dem der Jom Hasikaron, der Erinnerungstag an die für Israel gefallenen Soldaten, folgt, und schließlich Jom Ha-
atzmaut, der Unabhängigkeitstag Israels. In der offiziellen Erinnerung war es ganz wichtig, Katastrophe und Auferstehung miteinander zu verknüpfen. Viele religiöse Juden wiederum gedenken des Holocaust auch oft am zehnten Tag des jüdischen Monats Tewet im Dezember. An diesem Tag begann laut dem Buch der Könige die Belagerung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukad-
nezar, der den Ersten Tempel zerstören ließ.
Im offiziellen Gedenken Israels wird die Schoa also gewissermaßen von den Daten der deutschen Geschichte abgelöst ...
zimmermann: ... und in die jüdische und israelische Geschichte eingereiht.
Das Gespräch führte Sylke Tempel.