von Katharina Born
»Ich möchte vergessen, aber ich sehe es immer…«, sagt der kleine Mann im hellen Sommeranzug. Er steht auf der Bühne des Pariser Théatre des Bouffes du Nord, wo Peter Weiss’ Die Ermittlung läuft. Von 1963 bis 1965 mussten sich in Frankfurt/Main SS-Leute des Vernichtungslagers Auschwitz vor Gericht verantworten. Über dreihundert Überlebende aus aller Welt reisten an, um im bis dahin größten Schwurgerichtsprozess der deutschen Geschichte gegen die 22 Angeklagten auszusagen. Der Schrift-steller Weiss machte aus dem Prozess eine szenische Montage authentischer Zeugenaussagen, der Nachfragen von Anklage und Verteidigung, der Leugnungen, Rechtfertigungen und des Lachens der Täter.
Was die Pariser Aufführung von anderen Inszenierungen unterscheidet, ist die Herkunft der sieben Schauspieler: Es sind Ruander, die erlebt haben, wie 1994 in ihrem Land Hunderttausende Menschen mit Macheten, Knüppeln und Schusswaffen planmäßig ermordet wurden. Es war neben Kambodscha der weitreichendste Völkermord seit dem Holocaust. Für Dorcy Rugamba, der das Stück gemeinsam mit der Belgierin Isabelle Gyselinx inszeniert hat, klingen die Ausreden der Täter und Mitwisser im Auschwitzprozess deshalb nur allzu vertraut: das Verstecken des Einzelnen hinter einer Befehlskette und einer Ideologie des wirtschaftlichen Nutzens. Der Regisseur und Gründer der Theatergruppe »Urwintore« kam 1994 als junger Pharmaziestudent nach Europa, nachdem er im Völkermord seine Familie verloren hatte. Seit drei Jahren arbeitet er mit Peter Brook zusammen, der in Paris die Bouffes du Nord leitet. »Wenn nach Auschwitz ein neuer Genozid stattfinden konnte und das im Angesicht einer fast völligen Gleichgültigkeit der restlichen Welt, dann heißt das, daß die Bedingungen noch immer bestehen, die das Morden damals möglich gemacht haben«, sagt Rugamba. »Es geht uns nicht um persönliche Trauerarbeit, wir wollen auch keinen öffentlichen Appell, kein ›Nie wieder’. Wir sprechen davon, wie der Mensch lebt, hier und heute.«
Wie von Peter Weiss beabsichtigt, bleibt in der Pariser Aufführung das Bühnenbild traditionell nüchtern. Ein Bild von Auschwitz soll allein durch die grauenerregenden Schilderungen von Tätern und Opfern in den Köpfen der Zuschauer entstehen. Dazu gehört auch die weitgehende Anonymisierung der Zeugen und die Austauschbarkeit der Rollen: Ein Schauspieler stellt abwechselnd einen Zeugen dar, dann ist er Staatsanwalt, dann Angeklagter und in einer letzten Szene wieder Zeuge. Das soll auf die Willkür des Geschehenen hinweisen, auf seine Kontinuität im Deutschland der Nachkriegszeit – und auf seine Wiederholbarkeit.
Die Ermittlung sollte nach dem Willen ihres Autors vor allem das »Danach« des Holocaust zeigen, die Hilflosigkeit des Umgangs mit der Nazivergangenheit im Land der Täter. Weiss war aus Schweden, wohin er sich vor der nazistischen Judenverfolgung gerettet hatte, in die Bundesrepublik gekommen und hatte als Zuschauer des Auschwitzprozesses die Verlorenheit der Überlebenden, das selbstzufriedene Weiterleben der Schuldigen und den Zynismus einer juristischen Vergangenheitsbewältigung direkt miterlebt. Auch in Dorcy Rugambas Inszenierung liegt der Akzent auf dem skandalösen allgemeinen Wegschauen, dem Hinnehmens noch der schlimmsten Verbrechen. Er beginnt werkgetreu – nur dass es eben schwarze Schauspieler sind, die die Rollen von Naziverbrechern und ehemaligen Auschwitzhäftlingen spielen. Doch dann beginnt in dem auf der Bühne nur angedeuteten Gerichtssaal eine hitzige Szene in der Bantusprache Kinyarwanda. Der Angeklagte spuckt den Zeugen an, die Stimmen werden lauter, der Verteidiger scheint eine Handgreiflichkeit gerade noch vermeiden zu können. Der Text der Schauspieler, den Zu- schauern unverständlich, scheint nun vom Original abzuweichen, aktualisiert und auf den Völkermord von Ruanda bezogen. Aber dann halten die Darsteller plötzlich inne, beginnen die kurze Szene erneut in genau derselben Haltung, mit derselben Erregung – doch diesmal mit Weiss Originaltext in der französischen Übersetzung von Jean Baudrillard.
Das Experiment gelingt: Die Schmerzen und Unsicherheit der Zeugen, die zur Schau getragene Überlegenheit der Täter , die sich noch vor Gericht des Rückhalts einer schweigenden Mehrheit sicher scheinen, wirken tatsächlich austauschbar. Ob Frankfurt oder Kigali: Diese Aufführung macht deutlich, dass hilflose Fragen nach Zahlen, Zeitabläufen und Beweggründen den Schrecken als Ganzes zwar sichtbar machen, ihn aber nicht verhindern können – damals ebenso wie heute.