NS-Zwangsarbeiter

Aus dem Schatten

von Johannes Boie

Etwa 13 Millionen Menschen wurden während der NS-Zeit zur Arbeit in Deutschland oder in von Deutschen besetzten Gebieten gezwungen. Die Arbeiter, die die Tortur überlebt haben, sind heute alte Menschen. Umso größer war der Zeitdruck für ein internationales Forscherteam, das unter der Führung der Fernuniversität Hagen ehemalige Sklaven- und Zwangsarbeiter in 27 Ländern interviewt hat. Zur Sache sei zwar bereits viel geforscht worden. Aber über individuelle Biographien sei nur wenig bekannt, heißt es bei der Fernuniversität und der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«, die das Projekt mit 1,2 Millionen Euro unterstützt. Nachdem es 2004 offiziell gestartet wurde, hat Projektleiter Alexander von Plato zunächst Interessierte rund um die Welt gesucht, die in ihren Ländern Interviews mit ehemaligen Zwangs- und Sklavenarbeitern führen können. Als Anreiz für ihre Arbeit bekommen die 34 Forscherteams Mitnutzungsrechte an den Interviews.
Zwei Jahre später liegen nun rund 550 Interviews vor, über ein Viertel davon wurde auf Video dokumentiert. Weitere 30 Interviews aus Frankreich sind noch in Arbeit. Knapp die Hälfte wurde mit Frauen geführt, über ein Drittel der Interviewten sind Juden. Das Gros der Gespräche ist in Osteuropa entstanden, viele Interviews kommen aber auch aus Mittel- und Westeuropa, aus den USA und aus Israel.
Die gesammelten Texte werden redaktionell bearbeitet und sollen in einem englischsprachigen Buch herausgegeben werden, eine deutsche Übersetzung hängt von der Finanzlage der Projektgruppe ab. Über die Buchveröffentlichung hinaus werden die Interviews nach wissenschaftlichen Standards archiviert. Erste Anfragen von Schulen und anderen öffentlichen Institutionen zur Nutzung liegen vor. Eine Veröffentlichung im Internet ist angedacht, aber aus rechtlichen Gründen schwierig.
»Mit der Publikation erreichen wir drei Ziele«, erklärt Projektleiter Alexander von Plato. »Wir möchten zunächst den Lebenden wie den Toten ein Denkmal aus Lebensgeschichten, statt aus Stein und Zement setzen.« Darüber hinaus wolle man die Dimension des Schattens aufzeigen, der das Leben der früheren Zwangs- und Sklavenarbeiter auch später noch verdunkelt hat. »Selten waren die Folgen nur die bekannten seelischen und gesundheitlichen Probleme. Oft wurden die Leidenden noch zusätzlich mit familiärem und gesellschaftlichem Druck belastet.« Als drittes Ergebnis ihrer Arbeit peilen die Forscher einen umfassenden Vergleich verschiedener Erinnerungskulturen an. »Je nach kulturellem und gesellschaftlichem Background gibt es riesige Unterschiede. Ein litauischer und ein südafrikanischer Zwangsarbeiter mögen das gleiche erlebt haben, aber sie erinnern es sehr unterschiedlich.« Besonders bedrückend sei, daß viele Heimkehrer in den russischen Machtbereich als Kollaborateure gleich wieder in ein Lager gesteckt worden seien. »Nach dem Horror in Deutschland wurden diese Menschen in ihrer Heimat gleich nochmal verurteilt«, sagt von Plato, »das hat für manche die Erfahrungen in Deutschland im nachhinein relativiert.« Neben den regionalen Unterschieden stellte das Team auch Unterschiede auf religiös-kulturellem Niveau fest: »Wenn das Buch veröffentlicht ist, wird man auch Unterschiede zwischen der Art der Erinnerung von Juden und Nichtjuden entdecken können.«
Die außergewöhnlich große Dimension des Projekts und die schwierige Thematik stellen das Team immer wieder vor große Schwierigkeiten. Auf einer abschließenden Konferenz in Berlin am vergangenen Wochenende wurde im Forscherkreis viel diskutiert. Für Anstoß sorgte beispielsweise die Namensliste der Interviewten, die im Anhang des Buches erscheinen soll. Ein Teil der Forscher erachtet dies als unbedingt nötig und will sogar Fotos der ehemaligen Arbeiter veröffentlichen. Damit soll dem Wunsch, den Interviewpartnern ein Denkmal zu setzen, Rechnung getragen werden. Andere fürchten einen Eingriff in die Privatsphäre, zumal einige der älteren Menschen bereits um Anonymität gebeten haben. Heftig diskutiert wird auch der Titel des Buchs. Mit »Toiling for the Reich« (»Schuften für das Reich«) werde den Interviewpartnern unterstellt, für das »Reich« gearbeitet zu haben, »Tatsächlich haben sie aber heimlich Sabotage geleistet«, empört sich eine spanische Wissenschaftlerin. Die Brisanz des Themas macht die Debatten nicht leichter – außerdem ist das Projekt nicht nur organisatorisch, sondern auch inhaltlich schwer unter einen Hut zu bringen. Die Interviewpartner erinnern sich an Zwangsarbeit in Betrieben mit und ohne eigene Lager und an Landarbeit bei Bauern. Befragt wurden auch Roma aus verschiedenen Ländern. Die große Menge an Material ist eine Herausforderung für die Forscher: Jede Erinnerung stellt andere Details in den Vordergrund und jedes Schicksal verdient seine eigene Beachtung. Während etwa für Zwangsarbeiter die Arbeit häufig mit das Schlimmste an ihren Erlebnissen in Deutschland war, war die Arbeit für die sogenannten Sklavenarbeiter, zumeist Juden (darunter viele KZ-Insassen), oft die einzige Chance zu überleben. So bekommt der Kern der Untersuchung, die Zwangs- und Sklavenarbeit, in jedem Interview einen unterschiedlichen Stellenwert, den es in Buchtitel und Aufsätzen zu beachten gilt.
Trotz der hitzigen Debatten ist von Plato zuversichtlich. »Ich freue mich sehr, daß wir schnell an die Vorbereitung des Buches gehen können«, sagt von Plato. Sein Zeitplan ist eng: Am 28. Februar 2007 läuft die Finanzierung des Projektes aus, dann sollte das Buch im Druck sein – und von Plato verabschiedet sich in den Ruhestand.

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