von Lena Gorelik
Die Heines und Einsteins der UdSSR sind nicht gekommen. Dabei hatte man ihre Ankunft doch so sehr erwartet, so große Hoffnungen in sie gesetzt. Einig waren sich sowohl die jüdischen Vertreter als auch die an der Entscheidung beteiligten deutschen Politiker Anfang der 90er-Jahre gewesen: Mit der Zuwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sollte auch die jüdische Kultur in Deutschland wiederbelebt werden, die so schön geblüht hatte hierzulande Anfang des Jahrhunderts. Und nun sind sie da, diese Juden aus der Sowjetunion, seit Jahren schon, aber Heines und Einsteins sind leider nicht dabei.
Oder doch? Vielleicht leben sie ja schon längst unter uns, sind künstlerisch und akademisch tätig, vielleicht tragen sie ja sogar immens zur kulturellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands bei; wir nehmen sie nur nicht wahr. Kann das vielleicht des Rätsels Lösung sein? Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben die Gruppe der Kontingentflüchtlinge untersucht, und so unterschiedlich die Ergebnisse auch sein mögen, in einem ist man sich einig: Zwischen 68 und 83 Prozent, also mindestens zwei Drittel der zugewanderten Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, bringen einen akademischen Abschluss mit. Es kann doch nicht sein, dass sie alle auf der faulen Haut liegen!
Tun sie auch nicht. Jeder kennt wohl Wladimir Kaminer, den prominentesten Kontingentflüchtling Deutschlands. Seine Geschichten und Hörbücher, die er am laufenden Band produziert, gehen weg wie warme Semmeln; die Russendisko ist zu einem feststehenden Begriff geworden, kaum ein Deutscher, der Kaminers Akzent nicht umwerfend charmant findet. Und er ist nicht der einzige jüdische Zuwanderer, dessen Name auf deutschen Buchtiteln steht. Ein ganz neuer Stern am Literaturhimmel ist die in Frankfurt lebende Alina Bronsky, deren erster Roman Scherbenpack im Herbst erscheinen wird und die vor ein paar Wochen beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt vorlesen durfte. Erfolg ist der 29-Jährigen mit der Neuerscheinung jetzt schon sicher.
Ein anderes Beispiel ist Sergey Lagodinsky, der als Jugendlicher mit seiner Familie nach Deutschland kam. Obwohl der Harvard-Absolvent erst dabei ist, seine juristische Promotion abzuschließen, ist er in politischen und publizistischen Kreisen schon bekannt wie ein bunter Hund: Im Fernsehen und großen deutschen Zeitungen tritt er als Experte für Zuwanderung, aber auch zu den aktuellen Geschehnissen in Russland auf; in der Politik mischt er mit, seit er einen jüdischen SPD-Arbeitskreis ins Leben gerufen hat.
In der Berliner Kunstszene kennt jeder den Maler Pavel Feinstein. Der gebürtige Moskauer studierte nach seiner Ankunft in Deutschland an der Hochschule der Künste in Berlin und stellt seine Kunstwerke heute in fast jeder namhaften Galerie und zuletzt auch im Jüdischen Museum aus.
Geht man in den Osten Deutschlands und in einen anderen Bereich, trifft man in Erfurt Wladimir Vojhonskij, einen Herrn mit Doktortitel, der 1998 aus Sankt Petersburg nach Deutschland übersiedelte. Das Land kannte er vor seiner Auswanderung schon. 1994 war er von der Bundesregierung in seiner Funktion als Chefredakteur etlicher naturwissenschaftlicher und medizinischer Periodika zu einer Konferenz nach Hamburg eingeladen worden. Auch als Berater der Fachmesse Medica in Düsseldorf war Vojhonskij tätig. Nach seiner Übersiedlung hat er als Kurator die Ausstellung »300 Jahre Sankt Petersburg«organisiert, die in mehr als 25 deutschen Städten gezeigt wurde und in den großen deutschen Feuilletons viel beachtet und gelobt wurde. Gezeigt wurde sie auch beim Petersburger Dialog, der wichtigsten deutsch-russischen politischen Diskussionsplattform. Momentan bereitet Vojhonskij eine neue Ausstellung vor, unter dem Titel »Russland: Gestern, heute und morgen«. Außerdem arbeitet er für das russisch- sprachige Radio »Grüne Welle« in Erfurt
In der akademischen Welt hat sich unter anderen Pavel Polian einen Namen gemacht. Sein Buch über das Schicksal der heimgekehrten sowjetische Kriegsgefangenen nach 1945 fand großen Anklang in wissenschaftlichen Kreisen. Seine Übersiedlung nach Deutschland hat ihm ein weiteres Forschungsfeld beschert, nämlich sich selbst oder, genauer gesagt, die jüdischen Kontingentflüchtlinge. Mehrere umfassende Studien hat er zu deren Auswanderungsmotiven, Identität und Zuwande- rerexistenz veröffentlicht.
Es sind Russen gekommen, und nicht Heines und Einsteins, sagt man seufzend und kopfschüttelnd. Es sind aber Juden gekommen, sie kamen aus der ehemaligen Sowjetunion, die russische Kultur haben sie in ihrer Heimat mit der Muttermilch aufgesogen. Ebenso Bildung, die im sowjetischen System und in ihren jüdischen Familien so hoch angesehen war. Und wenn man nicht so sehr mit dem Seufzen, Bedauern und Nachtrauern beschäftigt wäre, würde vielleicht auffallen, dass auch ein paar russisch- oder ukrainisch-jüdische Heines und Einsteins dabei sind.
Es mag sein, dass die jüdische Kultur in Deutschland nicht so blüht hierzulande, wie sie das vor dem Holocaust getan hat. Spannender und vielfältiger als in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern, vor der Ankunft der sogenannten Russen, ist sie aber allemal geworden. Der nichtjüdischen deutschen Öffentlichkeit jedenfalls ist es schon aufgefallen.