von Rabbiner Baruch Rabinowitz
Am Schabbat nach dem Pessachfest werden in der Synagoge die Wochenabschnitte Tasria und Mezora gelesen. Sie sind keine einfachen Kapitel aus dem dritten Buch Moses. Der Ewige verkündet die Frauenreinheitsgesetze. Dann wird die Aufmerksamkeit einer seltsamen Krankheit gewidmet – dem Aussatz. Wahrscheinlich war es eine Art von Hautkrankheit. Aber nicht nur die Menschen konnten davon befallen werden, sondern auch Kleidung, Häuser und Gefäße. Keiner anderen Krankheit in der Tora wird so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Und die Betroffenen mußten ausnahmsweise nicht einen Arzt, sondern einen Priester aufsuchen.
Der Aussatz ist nicht mehr verbreitet, schon gar nicht in unserer modernen Gesellschaft. Trotzdem lesen wir Jahr für Jahr die detaillierten Gesetze über den Umgang damit und fragen uns, was wir damit anfangen sollen. Wir lernen aber, daß die Tora zeitlos aktuell ist und deswegen auch die auf den ersten Blick schwierigen und ungebräuchlichen Teile für uns eine wichtige Botschaft enthalten.
Der Aussatz ist eine spirituelle Krankheit – sie ist physischer Ausdruck einer erkrankten Seele. Ein Mensch kann sehr lange seinen Geist unbehandelt lassen, aber irgendwann bricht er trotzdem aus, in einer Form, die sichtbar ist. Der Aussatz zeugte von Störungen und Vernachlässigungen des spirituellen Lebens. Sie waren ein Zeichen für gestörte Harmonie, einem negativ veränderten geistigen Kreislauf. Der Krankheitsausbruch war deswegen eine Aufforderung zu dringender Behandlung. Die Tora weist darauf hin, daß sogar die allerersten Symptome sehr ernst zu nehmen sind. Alleine der Verdacht, daß Mensch, Haus oder Gegenstand mit dem Aussatz infiziert sind, war ein Grund unverzüglich Hilfe zu suchen. Der richtige Ansprechpartner war der Priester. Er wurde eingeladen um zusammen mit dem Betroffenen die Ursache schnellstmöglich zu finden. Manchmal war es ein langer Prozeß. Man durfte aber nicht aufgeben und die Krankheit unbehandelt lassen. Die Verbindung zum göttlichen Urquell, die durch den Aussatz unterbrochen wurde, mußte wieder völlig hergestellt werden. Es ging darum, zu Gott zurückzukehren. Der Priester sollte den Menschen auf diesen Weg hinweisen und ihn begleiten.
Solange Mensch, Haus oder Gewänder krank waren, mußten sie von ihrer Umgebung isoliert werden. Nur der Kontakt zum Priester war zulässig. Dieses Gesetz erscheint auf ersten den Blick unmenschlich. Aber die Tora lehrt, daß es Zeiten gibt, in denen wir alleine mit unserem Gott bleiben müssen. Es ist die Zeit von ganz besonders intensivem Gebet und Meditation, die uns helfen sollen unser seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Es ging um die geistiger Gesundheit jedes einzelnen und der ganzen Gesellschaft. Der Aussatz nimmt eine so herauswogende Stellung in der Tora ein, weil nur eine spirituell gesunde Nation ihre Berufung und Erwählung der Menschheit zu dienen erfolgreich erfüllen konnte.
Obwohl heute der Aussatz im biblischen Sinne nicht mehr zu finden ist, leiden immer mehr Menschen an Krankheiten, die von einer unruhigen und verzweifelten Seele verursacht werden. Der Versuch, den Körper zu heilen, ohne erst die Ursache dafür zu finden und zu behandeln, hat nicht viel Sinn. Physisches Leiden wird sehr selten in Verbindung mit dem spirituellen Leben gebracht. Ärzte und Psychologen haben den Platz von Priestern in der modernen Gesellschaft fast völlig übernommen. Aber nicht alles können sie heilen, nicht jeden Schmerz können sie lindern. Immer wieder werden unsere Häuser und Familien betroffen – aus Mißverständnissen und Mangel an Sensibilität wird die Harmonie gestört. Sie mögen erst als Kleinigkeiten erscheinen, aber wenn nicht rechtzeitig und richtig behandelt, können sie am Ende die Beziehungen zerstören. Der materielle Besitz, wofür die Gewänder im Judentum oft ein Symbol sind, kann unserem spirituellen Leben einen erheblichen Schaden zufügen. Dann sind sie unser Aussatz. Der Aussatz drückt sich heutzutage in tausenden von Formen aus. Genauso wie damals, können wir das Problem alleine nicht lösen. Wir brauchen einen kompetenten Helfer.
Die Tora gibt an dieser Stelle dem Priester eine besondere Rolle. Obwohl sie auch nur Menschen sind und von Schwächen nicht frei, waren sie die richtigen Bezugspersonen. Ebenso wie man sich nicht schämen muß, zum Arzt zu gehen, ist es keine Schande, spirituellen Beistand bei einem Geistlichen zu suchen. Wir alle brauchen einen Ansprechpartner, mit dem wir unser Leben und unsere Probleme besprechen können und der uns durch den Heilungsprozeß begleiten kann. Die Rabbiner sind herausgefordert, in dieser Hinsicht die Aufgabe des Priesters zu übernehmen. Sie sind diejenigen, die für die spirituelle Gesundheit der ihnen Anvertrauten zuständig sind.
Über Probleme zu sprechen, ist nicht einfach. Die Welt erwartet, daß wir immer gut drauf sind, erfolgreich und gesund. Nicht viele Menschen interessieren sich dafür, wie es uns wirklich geht, deswegen kleben wir uns ein nettes Lächeln auf, um andere nicht zu erschrecken. Aber auch wenn wir nicht überall und zur jeder Zeit unsere Herzen ausschütten können, braucht jeder von uns einen Seelsorger. Jemanden, der die Symptome unserer seelischen Erkrankungen schnell erkennen und behandeln kann. Einen, der uns in unserer Suche nach der Ursache und der Lösung unterstützt und uns im Gebet begleitet. Die Tora lehrt uns, vor unseren seelischen Schwächen und Krankheiten nicht zu erschrecken, sondern den Mut zu haben, sie zu entdecken und zu behandeln.
Tasria-Mezora 3. Buch Moses 12,1 – 15,33