von Michael Borgstede
Nichts ist langweiliger als die Welt der internationalen Diplomatie, nichts eintöniger als Staatsbesuche. Bis ins letzte Detail durchstrukturiert und im Formalen erstarrt, machen sie auf Beobachter oft den Eindruck eines leeren Zeremoniells. Wie eine organisatorische Zwangsjacke verhindert das alles bestimmende Protokoll jede spontane Regung der Beteiligten. Die Antrittsvisite gilt unter den Staatsbesuchen als besonders unverfänglich. Da lernt ein neuer Regierungschef die ausländischen Kollegen kennen, man plaudert nett miteinander, gibt eine möglichst unverbindliche Erklärung ab und erinnert sein Gegenüber vielleicht freundlich an einige Absprachen mit der alten Regierung. Mehr als 24 Stunden dauert es in der Regel nicht. Auch Angela Merkels erster Besuch als Bundeskanzlerin in Israel währte nicht länger.
Und doch war dieser Besuch alles andere als unverfänglich. Das lag nicht nur daran, daß die deutsche Kanzlerin wenige Tage nach dem überraschenden Wahlsieg der Hamas bei den Wahlen zum palästinensischen Legislativrat in die Region reiste. Es liegt einfach in der Natur der Sache. »Niemals werden die deutsch-israelischen Beziehungen vollkommen normal sein«, sagte der amtierende israelische Ministerpräsident Ehud Olmert auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit aller Entschiedenheit. Auch 60 Jahre nach dem Holocaust und im 41. Jahr der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern steht der Besuch einer deutschen Regierungschefin in Israel unter besonderer Beobachtung.
Allerdings waren es vor allem deutsche Medien und Kollegen, die die angebliche außenpolitische Anfängerin mit guten Ratschlägen bombardierten und vor fast unvermeidbar scheinenden Fehlern warnten.
Fast schien es, als solle die Kanzlerin mit einem perfekten Auftritt die historische Läuterung ihres Volkes demonstrieren. Gilt ein Israelbesuch vielleicht deshalb noch immer als ein Härtetest für deutsche Politiker? Die Israelis dagegen blickten der Stipvisite wesentlich abgeklärter entgegen: Sie haben sich längst an Besuche deutscher Politiker gewöhnt. Argwohn ist Vertrauen gewichen, und auch den einen oder anderen diplomatischen Fehltritt würde man den Deutschen heute anstandslos verzeihen.
Der Kanzlerin jedenfalls ist die Anspannung anzusehen, als sie am Sonntagabend gemeinsam mit Ehud Olmert im Jerusalemer Nobelhotel King David vor die Presse tritt. Minutenlang tauschen sie die üblichen Freundlichkeiten aus, versichern, wie glücklich sie über das Treffen seien und schauen doch eher sorgenvoll in die Kameras. Die intensiven Handelsbeziehungen beschwören sie, den kulturellen Austausch und den Jugendaustausch. Olmert kondoliert den Deutschen zum Tod von Johannes Rau und Merkel wünscht, etwas überenthusiastisch gleich »im Namen des ganzen deutschen Volkes«, Ministerpräsident Scharon gute Besserung. So weit war alles vorhersehbar.
Dann wird es politisch. Merkel präsentiert drei Bedingungen, die die Hamas erfüllen müsse, bevor die Bundesrepublik mit ihr Kontakte unterhalten werde. Die ordentlich durchnumerierten Punkte der Kanzlerin werden zu einer Art Mantra ihres Besuches, das sie überall in fast identischen Worten wiederholt: erstens müsse die Hamas das Existenzrecht Israels anerkennen. Zweitens müsse die Organisation der Gewalt abschwören, und drittens müsse sie alle bisher erreichten Schritte im Friedensprozeß anerkennen. Ansonsten sei es »unvorstellbar, daß Deutschland die Autonomiebehörde direkt unterstützt«. Olmert nickt zufrieden, als Merkel ihre Ausführungen mit einem bestimmten »Das ist die deutsche Position« beendet.
Später, nach dem gemeinsamen Abendessen, werden Mitglieder der Delegation von der »lockeren Atmosphäre« bei Tisch berichten. Merkel und Olmert sprächen »eine gemeinsame Sprache«. Schon während der Pressekonferenz scheint es, als stünden beide für einen ähnlichen Politikstil: Unprätentiös, ruhig und besonnen geben sie sich. Sie sind keine Charismatiker, keine mitreißenden Redner. Immer wieder verliert die Kanzlerin sich in endlosen Satzkonstruktionen, die die Übersetzerin vor schier unlösbare Aufgaben stellen. Und manchmal, wenn die Kanzlerin etwas verloren hinter ihrem Pult Schutz sucht, hat man den Eindruck, als würde Politik ihr gar keinen Spaß machen. Die Lust an der Macht, die Freude am Spiel mit den Medien sind ihr fremd. Dafür – und damit gewinnt sie in Israel schnell Sympathien – glaubt man ihr jedes Wort. Als die Regierungschefs zum Abschluß minutenlang vor den Kameras die Hände schütteln, zieht Olmert die Kanzlerin unversehens an sich heran und umarmt sie. Merkel wirkt etwas hilflos, aber nicht unglücklich.
Am nächsten Morgen, in der Residenz des Staatspräsidenten Moshe Katsav, tritt sie schon gelöster auf. Die beiden sind sich bereits mehrfach begegnet, Katsav begrüßt seinen Gast mit Wangenküßchen. Das Treffen ist kurz, es geht wohl hauptsächlich um das Ergebnis der Palästinenserwahl. Auch das anschließende Pressestatement bietet wenig Neues. Ob sie denn keine Angst habe angesichts der chaotischen Situation nach Ramallah zu fahren, will eine israelische Journalistin wissen. Nein, habe sie nicht, entgegnet Merkel. Sie hoffe, daß Machmud Abbas mäßigend auf die Hamas einwirken könne. Außerdem halte sie es für nötig, überall klar und deutlich dasselbe zu sagen. Das tut sie dann auch und rezitiert einmal mehr ihre drei Bedingungen an die Hamas, bevor der Konvoi sich in Richtung Yad
Vashem in Bewegung setzt.
Der Direktor der Holocaustgedenkstätte, Avner Schalev, führt die Kanzlerin durch das neue Museum. Mit dabei ist auch der 80jährige Noach Flug, ein Überlebender des Ghettos Lodz und Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. Flug berichtet von seiner Zeit im Ghetto, Schalev erklärt historische Zusammenhänge und erzählt die Tragödien hinter den Ausstellungsstücken. Daß er bei der Kanzlerin bisweilen den Wissensstand einer Grundschülerin zugrunde legt, ficht Merkel nicht an. Sie ist gekommen, um zuzuhören. Das tut sie schweigend, aber interessiert. Den warnenden Hinweis ihrer Mitarbeiter, die sich um den minutiös geplanten Tagesablauf sorgen, ignoriert sie. Dann muß Außenministerin Zipi Livni eben warten. Vor einer Vitrine mit den letzten Habseligkeiten ermordeter Juden ballt sie kurz die Faust, als seien Spannung und Trauer für einen Moment unerträglich geworden. Dann führt Schalev sie in die »Halle der Erinnerung«.
Dort ist es kühl und dunkel. »Eli, Eli« singt ein Mädchenchor: »Mein Gott, mein Gott!/ Niemals mögen ein Ende finden/ der Sand und das Meer,/ das Rauschen des Wassers,/ der Glanz des Himmels,/ und das Beten der Menschen.« Die Kanzlerin legt einen Kranz nieder. Ein Kantor betet »El Male Rachamim« – »Gott voller Erbarmen«. Gegen Ende des Gebets, der Kantor bittet ge- rade um die Auferstehung der ermordeten Juden am Ende aller Tage, dringt das Lachen israelischer Teenager in die Halle. Doch in diesem Moment stört der Lärm nicht, die respektlos witzelnden Jugendlichen haben auf einmal etwas Tröstliches. Einem Mitarbeiter des israelischen Außenministeriums rollt eine Träne übers Gesicht, auch Merkel ist sichtlich gerührt.
Im Freien, in der angenehm warmen Wintersonne, liest sie kurz darauf mit weicher Stimme wenige vorbereitete Sätze vom Blatt: »Tiefe Scham erfüllt uns und wird uns in Zukunft erfüllen« sagt sie. Man würde ihr jetzt einen Moment der Ruhe, einen Augenblick des Alleinseins fern des hektischen Medienrummels gönnen. Statt dessen soll sie im »Wald der Nationen« unterhalb von Yad Vashem einen Baum pflanzen. Sie sei froh, als deutsche Regierungschefin hier ein »Zeichen der Hoffnung« setzen zu können, sagt sie. Als sie die Wurzeln des kleinen Johannisbrotbaums mit Erde bedeckt, fällt die Anspannung von ihr ab. »Schauen Sie mal hierher!« fordert ein Fotograf sie auf. »Ich arbeite«, entgegnet die Kanzlerin scherzend mit der Schaufel in der Hand. Merkel sei ein »Lernsystem« sagt der Kollege einer deutschen Boulevardzeitung auf dem Weg zurück ins Hotel. »Sie macht keinen Fehler zweimal.« Auf ihrem Besuch hat sie bisher gar keinen gemacht.
Nach einem kurzen Treffen mit Außenministerin Zipi Livni macht Merkel sich auf nach Ramallah, den letzten Teil ihrer Reise. Am Grenzübergang einer Grenze, die keine ist, muß sie ihre israelische Mercedes-Limousine verlassen und gegen eine palästinensische Mercedes-Limousine tauschen. Der Amtssitz Abbas’, die Mukata, zeigt noch immer Spuren der israelischen Belagerung zu Arafats Zeiten und hätte eine Renovierung bitter nötig. Weniger als eine Stunde dauert die Begegnung, dann treten Merkel und Abbas vor die Presse. Das Gespräch habe in einer »lockeren Atmosphäre« stattgefunden, heißt es. Werde die Bundesregierung einer Hamas-Regierung vielleicht doch Finanzhilfen zukommen lassen, fragt eine Journalistin. Merkel hört diese Frage nicht zum ersten Mal: »Sie kennen meine Prinzipien«, antwortet sie. Und verkündet sie – um ganz sicher zu gehen – gleich nochmal. Ob ihre Forderungen bei Abbas tatsächlich auf »offene Ohren« gestoßen sind, wie sie versichert, sei dahingestellt. Es konnte jedenfalls niemandem entgehen, daß in Ramallah im Rahmen des diplomatisch Möglichen eine ziemlich eisige Atmosphäre herrschte. In dem Redemanuskript, das ein Mitarbeiter des Palästinenserpräsidenten zuvor an Pressevertreter verteilt hatte, stand noch etwas von »gegenseitigem Einverständnis«. In der mündlichen Version ließ Abbas den Satz weg. Ein Zufall?
Wahrscheinlich hat Merkel auf dem Weg zum Flughafen nicht die israelischen Radionachrichten gehört. »25 Prozent der Israelis sparen an ihrer Gesundheit aus Angst vor hohen Kosten« meldete die Sprecherin. Dann ging es um Siedler in Hebron, von Merkels Besuch kein Wort. Vielleicht ein gutes Zeichen: Wenn eine deutsche Kanzlerin den jüdischen Staat besucht, muß das nicht unbedingt eine Nachricht wert sein. Im Fernsehen aber wird Merkel später ausdrücklich gelobt. »Israel hat eine neue Freundin«, heißt es in dem Bericht, und sie müsse den Vergleich mit Joschka Fischer nicht scheuen. Letzteres dürfte die Kanzlerin besonders gefreut haben.