von Jutta Sommerbauer
Hätte Charlotte Herman für die Linzer Juden einen Wunsch frei, müsste sie nicht lange überlegen. »Ich wünsche mir, dass wir mehr werden«, sagt die Zahnärztin. »Denn für unsere Zukunft brauchen wir junge Leute.«
Die jüdische Gemeinde der oberösterreichischen Landeshauptstadt ist überschaubar, man könnte auch sagen: klein. Hier kennt jeder jeden. Diejenigen, die zum Schabbat-Gottesdienst kommen, kann man an beiden Händen abzählen. 45 Männer und Frauen gehören zur Gemeinde.
Nach dem Ende der Nazi-Zeit sei es nie viel anders gewesen, erinnert sich Herman. »Als ich jung war, waren wir zu viert.« Vier junge Mitglieder. Und jetzt gibt es wieder nur vier junge Juden in Linz und Umgebung.
Die meisten Gemeindemitglieder sind mittleren Alters, erklärt der Präsident der Gemeinde, George Wozasek. Er selbst wird bald 84. »Ältere als mich gibt es nicht«, sagt er. Er selbst wurde in Wien geboren. Den Nazis entkam er mit einem Kindertransport nach Paris, später emigrierte er in die USA. Nach dem Krieg kehrte er nach Österreich zurück und siedelte sich aus beruflichen Gründen in Linz an.
Die einstige Stahlstadt möchte sich dieses Jahr als Europäische Kulturhauptstadt neu erfinden: Auch die jüdische Gemeinde nimmt am Programm von »Linz09« teil, allerdings nur mit zwei Veranstaltungen, beide im Herbst. »Das genügt mir«, sagt Wozasek. »Wir sind eine kleine Gemeinde. Für uns ist das eine große Aufgabe.«
Unter dem Motto »Die Erben Abrahams« soll am 21. Oktober ein jüdisch-muslimisch-christliches Gespräch geführt werden. Einen Tag später laden die drei Religionen zum musikalischen Beisammensein – eine Klesmerband wird die jüdische Gemeinde bei den »Gesängen der Religionen« vertreten. Gerne hätte man mehr organisiert, sagt Herman, aber »die personellen Ressourcen reichen nicht«. Sonst hätte man sich »auf Wien verlassen müssen«.
Sich auf Wien zu verlassen, ist nicht unüblich im religiösen Alltag der Gemeinde. Für das Gebet in der Synagoge reist jeden Freitag ein Kantor aus der Hauptstadt an. Auch bei Sterbefällen müssen die Linzer Unterstützung von der Wiener Chewra Kadischa anfordern.
Es war nicht immer so: Jüdisches Leben in Oberösterreich kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts siedelten Juden in der Altstadt von Linz. Später wurden sie vertrieben und durften sich nur noch während der Marktwochen in der Stadt aufhalten. Im 18. Jahrhundert errichteten sie eine Betstube, 1877 wurde eine prächtige Synagoge eingeweiht.
Um die Jahrhundertwende lebten in Linz rund 700 Juden. Doch der Nationalsozialismus bereitete der wachsenden Gemeinde ein jähes Ende: In der Pogromnacht im November 1938 zerstörten SA- Horden die Synagoge. Viele Gemeindemitglieder wurden nach Dachau gebracht. Die Verbliebenen erhielten die Auflage, innerhalb von drei Tagen nach Wien umzuziehen. Denn die Hauptstadt des Bundeslandes, in dem »der Führer« geboren war, sollte »judenrein« sein.
Hitler hatte große Pläne für die Stadt, in der er seine Schulzeit verbracht hatte: Linz sollte zu einem Industrie- und Kulturzentrum werden. Von den Nazi-Plänen zeugen heute noch das Stahlwerk der Voestalpine, die früheren Hermann-Göring-Werke, und die Nibelungenbrücke über die Donau.
Nach dem Krieg kehrten nur wenige Juden in die Stadt zurück. Bis die Gemeinde wieder eine Synagoge bekam, vergingen mehr als 20 Jahre. Erst 1968 wurde auf den Resten der alten ein neuer, moderner Bau errichtet. Daneben befindet sich das kleine Gemeindezentrum. Hin und wieder, erzählt Herman, kommen Besucher vorbei, die um den Schlüssel für den jüdischen Friedhof bitten.
Auch heute hat die Gemeinde kaum Zuzug. »Die Juden aus Osteuropa gehen traditionell nach Wien«, sagt Präsident Wozasek. Allerdings haben die Linzer auch noch keine gezielten Anwerbeversuche gemacht. Dafür freut sich die Gemeinde umso mehr über Gäste, etwa Musiker oder Akademiker, die in der 190.000-Einwohner-Stadt Station machen oder zeitweilig hier leben. Und schließlich kann Wozasek doch von einer Vergrößerung der Gemeinde berichten: Eine fromme Familie mit drei Kindern hat sich in der Nähe von Linz niedergelassen. Das hebt mit einem Mal die Statistik, besonders bei den Jungen.
Besucher der Kulturhauptstadt seien dennoch vorgewarnt: An jüdischer Infrastruktur hat Linz – abgesehen von der Synagoge – nichts zu bieten. Weder gibt es koschere Geschäfte und Restaurants, noch ein Altersheim, ganz zu schweigen von einem Kindergarten oder einer jüdischen Schule. Herman glaubt, dass die Mehrzahl der Linzer Juden dies nicht stört: Sie seien eben nicht besonders religiös.
Das Zusammenleben mit den anderen Religionsgemeinschaften in der Stadt verlaufe »ausgesprochen gut«, sagt Herman. Man trifft sich mehrmals jährlich zum ökumenischen Dialog, und auch vom Antisemitismus sei die Gemeinde bislang verschont geblieben. »Vielleicht, weil wir so klein sind«, gibt die Ärztin zu bedenken.
Geht es nach ihr, sollte das Judentum in Linz bekannter werden. Deshalb führt Herman auch Gruppen durch die Synagoge. Viele Schüler aus der Umgebung lernen in der Linzer Synagoge das erste Mal persönlich Juden kennen. »Für die ist es oft eine Überraschung, dass wir ganz normale moderne Menschen sind«, sagt Herman. Die Jugendlichen kennen Juden oft nur aus dem Fernsehen als Männer mit Schläfenlocken, die in Israel leben – ein »verzerrtes Bild«, das sie gern zurechtrücken möchte.
www.linz09.at
von Berthold Forssman
Über Jahrhunderte hinweg stellten Juden die größte Bevölkerungsgruppe in Vilnius. Neben 40 Kirchen gab es nicht weniger als 100 Synagogen in der Stadt. Dies trug ihr den Namen »Jerusalem des Nordens« ein. Aber nur wenige der ursprünglich rund 80.000 Personen zählenden jüdischen Gemeinde überlebten den Holocaust.
Nach dem Krieg taten die sowjetischen Behörden wenig oder nichts, um die jüdische Gemeinde zu fördern. Die durch Feuer schwer beschädigte Große Synagoge wurde abgerissen, den berühmten Friedhof im Stadtteil Šnipiškes ebnete man ein, um Platz zu schaffen für einen Sportpalast. Der jüdische Beitrag zur Entwicklung der Stadt wurde totgeschwiegen und geriet dabei zunehmend in Vergessenheit, die Zusammensetzung der Bevölkerung von Vilnius änderte sich fast vollständig.
Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens Ende der 80er-Jahre bescherte auch dem jüdischen Leben in der Hauptstadt eine Renaissance. In der neuen Verfassung garantierte der Staat allen Minderheiten dieselben Rechte, diskriminierende Gesetze wurden gestrichen, und der 23. September, der Tag der Zerstörung des Ghettos in Vilnius, wurde zum Tag des Völkermords an den Juden erklärt.
Heute leben in Litauen rund 5.000 Juden. Ein wesentlicher Teil von ihnen gehört zur Gemeinde in Vilnius, ohne dass es eine feste oder formale Mitgliedschaft gäbe. Mehrere Umzüge hat die Gemeinde mittlerweile schon hinter sich, inzwischen hat sie ihr Quartier in der Straße Pylimo gatve am Rande der historischen Altstadt bezogen, wo auch die aus dem Jahr 1901 stammende Synagoge steht.
Wer bei einem Gang durch die Stadt nach weiteren Spuren des alten jüdischen Vilnius oder auch nach modernem jüdischem Alltag sucht, mag enttäuscht sein: Die meisten Bauten oder architektonischen Details der Vorkriegszeit sind den beiden Diktaturen zum Opfer gefallen. Vor allem ältere Juden beklagen, dass jegliche jüdische Atmosphäre außerhalb der Gemeinderäume der Stadt abhanden gekommen ist. Immerhin gibt es mit dem in der Altstadt gelegenen »Kineret« ein koscheres Restaurant, in dem man Fisch und vegetarische Gerichte essen kann. Touristen besuchen es gerne.
Und obwohl zwei der ursprünglich drei Friedhöfe eingeebnet wurden, besteht auf dem Suderve-Friedhof im Stadtteil Šeškine die Möglichkeit, die Toten nach jüdischem Brauch zu bestatten. Diese Frage ist aktueller denn je, denn die Gemeinde leidet massiv an Überalterung. Eine repräsentative Befragung von 2.000 Mitgliedern zeigte un- längst, dass zehn Prozent älter als 80 sind, 25 Prozent sind zwischen 71 und 80 und 35 Prozent zwischen 55 und 70 Jahre alt.
Daraus resultiert ein weiteres Problem: Die Renten in Litauen sind sehr niedrig, und die älteren Mitglieder haben kaum Möglichkeiten, die Arbeit der Gemeinde finanziell zu unterstützen. Etliche von ihnen setzen sich für die Bewahrung des Jiddischen ein, und ehemalige KZ-Häftlinge haben sich zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen.
Die Angehörigen der mittleren Generation haben mit dem Treffpunkt »Gesher« ein eigenes Forum: Freitagabend wird gemeinsam Schabbat gefeiert, einmal im Monat gibt es Vorträge und Begegnungen mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Kultur, und außerdem werden Theater- und Museumsbesuche sowie Exkursionen organisiert.
Bemerkenswert ist das Engagement für die jüngeren Gemeindemitglieder: Außer dem jüdischen Kindergarten »Salvija« und dem Jugendklub »Ilan« gibt es in der Stadt auch eine jüdische Schule, die immerhin rund 200 Kinder besuchen. Regelmäßig unterrichten dort bis zu drei Lehrer aus Israel, außerdem wird die Arbeit durch finanzielle Hilfe aus den USA unterstützt.
Wer sich über jüdisches Leben in Vilnius informieren will, kann die Zeitung »Lietuvos Jeruzale« (Das litauische Jerusalem) beziehen, alle zwei Wochen läuft im Fernsehen die Sendung »Menorah«, und es gibt in der Hauptstadt das staatlich finanzierte »Gaon-Museum«.
Um auf das Kulturhauptstadtjahr und auf die 1000-Jahrfeier-Litauens möglichst gut vorbereitet zu sein, hat die Gemeinde vor zwei Jahren das Jüdische Kultur- und Informationszentrum ŽKIC gegründet, das gemeinsam mit der Stadt betrieben wird. Doch trotz solcher und anderer Fortschritte in der Zusammenarbeit gestalten sich die Beziehungen zu den Behörden nach wie vor nicht immer reibungslos.
Noch immer ist der Streit um die Friedhöfe nicht endgültig gelöst, und auch die Auseinandersetzung der litauischen Gesellschaft mit ihrem jüdischen Erbe ist alles andere als abgeschlossen. Die unbequeme Frage, inwiefern Litauer an der Verfolgung und Ermordung von Juden beteiligt waren, hat deutliche Zeichen von Antisemitismus ans Tageslicht gebracht.
Immer wieder werden antisemitische Slogans oder Hakenkreuze auf Gebäude jüdischer Organisationen oder auf Denkmäler geschmiert. Für besonderes Aufsehen sorgte ein Vandalismusakt im August 2008 gegen das Gemeindezentrum. Litauens Staatspräsident Valdas Adamkus erklärte damals seine Abscheu: »Die Verhöhnung eines Volkes, das Opfer eines Genozids wurde, ist nicht nur gewöhnlicher Vandalismus, sondern richtet sich gegen ganz Litauen.«
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