von Dinah Spritzer
Sechzehn Jahre nach dem Ende des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa sind die jüdischen Gemeinden, die durch Nazismus, Kommunismus und Auswanderung so gut wie verschwunden waren, immer noch klein. Aber alle, die Kinder waren, als der Eiserne Vorhang fiel, kamen in den Genuß eines jüdischen Marshallplans. Dank der Bemühungen von Organisationen wie dem American Joint Distribution Committee (JDC), der Lauder Foundation und der Jewish Agency konnten sie ihre jüdische Identität wiederentdecken. Anders als im Westen haben viele junge jüdische Erwachsene im ehemaligen Ostblock erkannt, daß ohne das Engagement jedes einzelnen Mitglieds ihre Gemeinden – die wohl bis zur Hälfte aus Holocaustüberlebenden bestehen – untergehen könnten. Diese jungen Juden, im Begriff, in ihren Gemeinden Führungsrollen zu übernehmen, sind entschlossen, dieses Schicksal abzuwenden. Sie alle haben kreative Methoden gefunden, in ihrer Umgebung das Interesse an einer Wiedergeburt jüdischen Lebens zu wecken.
Warschau
Dorota Zielinska unterscheidet sich nicht von den meisten der 5.000 Juden, die in Warschau leben. Als sie aufwuchs, wußte sie nicht, daß sie jüdisch war. Die heute 27jährige verlebte ihre Kindheit in Wadowice im Süden Polens, Geburtsort des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. »Es ist ein konservativer Ort, wo es nicht leicht ist, anders zu sein«, sagt Zielinska. Als Teenager fand sie heraus, daß ihre Großmutter Auschwitz überlebt hatte und nach dem Zweiten Weltkrieg für die jüdische Gemeinde in Warschau arbeitete. Dorota Zielinska stand ihrer Großmutter sehr nahe und wollte mehr über ihre Herkunft wissen.
Nach dem Ende des Kommunismus traf sie eine Wahl, die ihre Familie für recht radikal hielt: Sie besuchte ein vom JDC und der »Polnischen Vereinigung religiöser jüdischer Gemeinden« geleitetes Ferienlager und Führungsseminare in Israel. »Dort fand ich endlich heraus, wer ich war«, erzählt sie. Aber für polnische Juden ist es nicht immer leicht, in Israel zu sein, stellte sie fest. »Die Israelis meinen, daß Juden aus Polen nach Israel kommen sollen, und ich sage: ›Ich bin Jüdin, aber ich bin auch polnische Staatsbürgerin’.«
Als Zielinska sich entschloß, ein jüdisches Leben zu führen, waren ihre Eltern besorgt. »In Dörfern wie unserem ist das Schlimmste, was man sagen kann, daß man jüdisch ist. Man verliert sein Geschäft.« Hinzu kam ihr nichtjüdischer Großvater, der Vater ihres Vaters, den Zielinska als »Paradebeispiel für provinziellen Antisemitismus« sieht. Zielinska zitiert ihn mit den Worten: »Es ist nicht seltsam, Juden nicht zu mögen – weil Juden überall sein wollen.«
Nachdem Zielinska das College in Warschau beendet hatte, wurde sie Leiterin der Jugendabteilung. Sie etablierte eine Sonntagsschule und den ersten jüdischen Jugendclub der Gemeinde. Sie hält den Schabbat ein, auch weil sie das Erlebnis mit ihrer vierjährigen Tochter teilen will. »Nach all der Desorientierung, die ich selbst durchgemacht habe, war ich nicht sicher, wie ich ihr sagen sollte, daß sie jüdisch ist; aber heute gibt es dafür Programme«, sagt sie. »Ich nahm sie zu einer Schabbatfeier mit, und sie liebte es. ›Schabbat Schalom’ ist jetzt ihr Lieblingslied – zur Überraschung ihrer Großeltern.«
Budapest
Als Sohn eines Rabbiners wußte Adam Schoenberger immer, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Aufgewachsen unter etwa 80.000 bis 100.000 Juden in Budapest, ist jüdisch zu sein für Schoenberger nichts Besonderes. Dennoch weiß er, daß junge Juden in Ungarn sich nicht sonderlich am Gemeindeleben beteiligen. Der 25jährige, der Literatur studiert, wollte daran etwas ändern. Seit zwei Jahren führt er die »Marom« an, die »Konservative Jugendbewegung« und neueste Organisation für junge jüdische Erwachsene in der ungarischen Hauptstadt. »Ich sah, daß es für junge jüdische Menschen keine Angebote gab, kulturelle Erlebnisse mit jüdischen Themen zu genießen, also fingen wir bei Marom an, Veranstaltungen wie Klesmer-Konzerte zu organisieren und ein Chanukkafest, zu dem 800 Menschen kamen«, berichtet er. Seiner Meinung nach ist die Attraktivität der Veranstaltungen darauf zurückzuführen, daß die Besucher nicht gefragt wurden, ob sie jüdisch seien, und nicht Mitglied einer jüdischen Einrichtung sein mußten. »Die Leute haben keine Lust, einer Organisation beizutreten«, sagte er. »Ich wollte andere Wege finden, die Menschen an das Judentum zu binden.«
Schoenberger half, ein jüdisches Theater ins Leben zu rufen, und gründete eine HipHop-Band. Er schreibt die Texte. »Wir singen über die Energie, die man in die Gemeinschaft fließen lassen muß, denn auch nach dem Kommunismus kann es hier noch ziemlich deprimierend sein.« »Marom« sponsert Vorträge über jüdische Geschichte, Talmud, Psychologie und Anthropologie und bietet einen Freitagabend-Kiddusch an. »Hauptsache ist, daß wir tolerant und pluralistisch sind. Wenn jemand am Schabbat eine Zigarette rauchen möchte, ist das seine Sache. Und bei uns herrscht Gleichheit zwischen den Geschlechtern.«
Bratislava/Sofia
Tomas Faerber kann nur lachen, wenn er hört, daß den slowakischen Juden der Ruf vorausgeht, sie stünden ihrem Glauben gleichgültig gegenüber. »Meine Generation ist nicht apathisch; wir hatten so viel zu tun, um uns vom Kommunismus zu erholen. Wir haben viel Energie«, sagt der 26jährige. Mitte der neunziger Jahre, noch als Teenager, ermöglichte es ihm ein Stipendium der Jewish Agency und der Jüdischen Gemeinde Bratislavas, nach Israel zu reisen. Danach organisierte Faerber in Bratislava jüdische Seminare für Teenager. »Heute werden diese Programme, die jetzt in einem Jugendklub stattfinden, von etwa vierzig Jugendlichen besucht, die etwas über Schabbat-Abendessen, Synagogenbesuche oder auch Skiurlaub erfahren wollen.« Doch die jüdischen Gemeinden der Slowakei haben insgesamt nur etwa 700 Mitglieder. Wie können junge Juden jüdische Partner finden? »Wir nehmen an den Treffen für junge Erwachsene aus der Donauregion teil, die der JDC veranstaltet«, sagt Faerber. »In Wien gibt es zum Beispiel eine Chanukkafeier, eine wunderbare Gelegenheit, jemanden kennenzulernen, und ob Sie es glauben oder nicht, die meisten jungen Juden aus Bratislawa wollen einen jüdischen Ehepartner.«
Sein »Kollege« aus Bulgarien, Alexander Oscar, Arzt und Vizepräsident von »Schalom«, der wichtigsten Dachorganisation der jüdischen Gemeinden in der Hauptstadt Sofia, sieht das ähnlich. »Wir brauchen jüdische Familien«, betont er. »In den nächsten 10 bis 15 Jahren müssen wir Wege finden, wie sich Juden in ganz Europa kennenlernen können, um zu heiraten. In meiner Generation sprechen alle Englisch, also fällt die Sprachbarriere weg.«
Prag
Manchmal entsteht aus etwas Schlechtem etwas Gutes. Zum Beispiel die internen Querelen über die politische Führung in der Prager Jüdischen Gemeinde, die in den vergangenen beiden Jahren zur Folge hatten, daß viele tschechische Juden sich stärker in der Gemeinde engagieren. Eine von ihnen ist Barbara Rappaport.
Die 26jährige ist damit ausgelastet, ihren Magister in Betriebswirtschaft abzuschließen und gleichzeitig als Veranstaltungsplanerin für eine der größten Banken in Tschechien zu arbeiten. Rappaports organisato- rische Fähigkeiten kamen 2005 sehr gelegen, als Karol Sidon, der Rabbiner, der ihr geholfen hatte, zu einem jüdischen Leben zu finden, vom Vorsitzenden der Prager Jüdischen Gemeinde entlassen wurde. Obwohl sie sich vorher nicht in der Gemeindepolitik engagiert hatte, half sie, die oppositionellen Kräfte zu organisieren, denen es am Ende gelang, den Vorsitzenden dazu zu bringen, daß er seinen Hut nahm. Nach den Wahlen im November wurde Rappaport zum jüngsten Mitglied des Gemeindevorstands ernannt. Dabei wußte sie bis zu ihrem 14. Lebensjahr nicht einmal, daß sie jüdisch war. In der slowakischen Kleinstadt Martin, wo sie aufwuchs, waren alle katholisch. »Ich dachte, ich sei gar nichts. Dann erzählte mir meine Tante, ich sei jüdisch, ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete.«
Sarajevo
Wie viele andere junge serbische Juden floh Sandra Levi 1999 aus ihrem Land, um dem Krieg, der Herrschaft eines Diktators und einer maroden Wirtschaft zu entfliehen. Sie landete in Israel, wo sie Hebräisch lernte und mit den diffizileren Aspekten eines streng religiösen Lebens vertraut wurde. Vergangenes Jahr, im Alter von 25 Jahren, kehrte sie mit einem Diplom in Lateinamerikanistik von der Hebrew University nach Belgrad zurück, mit der festen Absicht, hierzubleiben.
»Belgrad ändert sich und wird mehr europäisch, während Israel immer nahöstlicher wird«, sagte sie. »Alija ist ein heikles Thema. Die Wahrheit ist, daß ich mich in Belgrad jüdischer fühle. Ich gehe jeden Freitag in die Synagoge, während ich in Israel die Synagoge nicht so oft besuchte.« Levi ist überzeugt, daß bei nur 2.000 Juden in der serbischen Hauptstadt ihre Anwesenheit in der Synagoge zählt. »In Israel ist jeder jüdisch, hier habe ich das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden.« Sie arbeitete als Erzieherin im Ferienlager und hielt Workshops über jüdische Traditionen für jüdische Teenager und Studenten ab. Ihr Traum ist es, eine jüdische Grundschule ins Leben zu rufen, sie würde aber auch schon mit einem Kindergarten zufrieden sein. »Die Gemeinde sucht dafür einen Ort, und die Stadt Belgrad will helfen«, sagt Levi. »Ich weiß, es wird irgendwann wahr werden. Denn es ist der gute Wille vorhanden, es wahr werden zu lassen.«