von Claudia Schade
In dichtem Pulk stehen mehr als 200 Neugierige vor dem Eingang der Dresdner Synagoge und warten auf Einlass. Es ist ein schöner Sonnentag am vergangenen Wochenende, und Dresden feiert sein Stadtfest. Kinderspiele, Konzerte und Kabarett laden auf den Straßen der Innenstadt zum Verweilen ein. Doch trotz dieser Vielzahl konkurrierender Angebote sind Hunderte Menschen auf das Gelände der jüdischen Gemeinde gekommen, um sich über jüdisches Leben zu informieren, kleine Köstlichkeiten zu genießen und die Synagoge zu besichtigen. Bis zum Abend werden es etwa 1.000 Besucher sein.
Der Gast mit der vermutlich längsten Anreise ist Brittney Deppel. Sie kommt aus einer Kleinstadt im US-Bundesstaat New York und ist für zwei Wochen an der Elbe, um Verwandte zu besuchen. »Ich bin neugierig, zu erfahren, wie es von innen aussieht«, sagt die 15-Jährige. »Ich war noch nie in einer Synagoge.«
Damit geht es ihr wie den meisten Dresdnern, Touristen und Bewohnern des sächsischen Umlands, die an diesem Sonntag an einer der sechs kostenlosen Führungen durch den mächtigen Doppelbau teilnehmen. »Ich kenne das Gebäude nur von außen, man kommt ja sonst nicht hinein«, sagt Angela Just, die im Vorbeigehen von den Führungen erfahren hat und sich sogleich zu den War-tenden stellt. Mit jüdischem Leben ist sie zuvor noch nie in Berührung gekommen.
Nora Goldenbogen freut sich, von solchen Erstbesuchern zu hören. Sie ist Gemeindevorsitzende und leitet den Verein Hatikva, der im Auftrag der jüdischen Gemeinde seit der Einweihung der Synagoge im Herbst 2001 Führungen organisiert. Allein im vergangenen Jahr waren es 564 mit insgesamt 14.600 Besuchern. Zum Stadtfest öffnen die Dresdner ihr Gotteshaus besonders gern. »Wir denken, dass dieses Fest eine gute Möglichkeit ist, Besucher zu gewinnen, die sonst nicht über unsere Schwelle kämen«, sagt Nora Goldenbogen. »Viele trauen sich nicht hinein oder haben noch Vorbehalte gegen das Gebäude, das architektonisch heftig umstritten war. Oder sie sind einfach noch nie auf die Idee gekommen.«
Solche Menschen anzusprechen, sie neugierig zu machen und für einen Blick in jüdisches Leben zu gewinnen, ist ihr Ziel. »Schließlich geht es auch darum, klischeehafte Vorstellungen über Juden aufzubrechen«, sagt Goldenbogen. »Es gibt sehr viel Nichtwissen, und rechtes Gedankengut ist keine Seltenheit.« Deshalb sei es für die Gemeinde sehr wichtig, die Öffentlichkeit zu nutzen, um über sich zu informieren.
Das machen Gemeindemitglieder nicht nur in Schulen, bei Diskussionsrunden und dem Trialog mit Christen und Muslimen in der Stadt. Auch beim bekannten Stadtteilfest »Bunte Republik Neustadt« im Dresdner Kneipenviertel ist Hatikva präsent. Mit einem Informationsstand, jüdischen Speisen, Quizspielen für Kinder und Führungen über den dortigen jüdischen Friedhof kommen sie seit 1993 erfolgreich mit den jungen Festbesuchern ins Gespräch.
Die Gemeindegebäude selbst verpflichten ebenfalls zu Transparenz. Mit öffentlichen Fördermitteln erbaut, hat man bewusst ein Café und Veranstaltungsräume mitgeplant, um so auch Begegnungsort für Nichtjuden zu sein. Umstritten ist der Bau jedoch immer noch. »Ich habe nichts gegen Juden, aber dass sie uns so ein Haus mitten in die Stadt gesetzt haben ...« Der junge Mann, den Nora Goldenbogen einmal unfreiwillig mitanhörte, als er seine Gäste durch die Stadt führte, beendete den Satz nicht. Er scheint auch heute noch manchen Dresdnern aus dem Herzen zu sprechen, die moderne Architektur in ihrer geliebten Altstadt nur schwer ertragen. Gerade deswegen legt Ingo Wobst bei seiner Führung am Sonntagnachmittag einen Schwerpunkt auf die Architektur.
Die Türen zur Synagoge haben sich mittlerweile geöffnet. Alle 300 Sitzplätze sind besetzt. Ingo Wobst erzählt von der Synagoge des Baumeisters Gottfried Semper, die bis zu ihrer Zerstörung in der Pogromnacht 1938 an gleicher Stelle stand. Er erklärt, dass es keinen – in Dresden so beliebten – Wiederaufbau gegeben habe, weil man nicht so tun wollte, als habe es die Zerstörung und die Schoa nicht gegeben, und weil man sich als neue, moderne Gemeinde verstehe. Er erklärt die Besonderheiten der Architektur; dass das Gebäude in sich gedreht ist, um trotz des schmalen rechteckigen Grundstücks eine Ausrichtung nach Jerusalem zu bekommen. Er erzählt, dass die Geschlossenheit der Anlage, die bei manchen den Eindruck einer Festung erweckt, an den alten Tempel erinnern soll.
So wirbt Ingo Wobst um Verständnis und ist damit anscheinend erfolgreich. »Die Architektur hat mir früher überhaupt nicht gefallen«, sagt eine 47-jährige Dresdnerin nach der Führung. »Jetzt bin ich erstaunt, wie hoch der Raum ist und welche Eleganz er ausstrahlt.«
Vollends ihr Ziel erreicht haben die Organisatoren bei Lydia Roßner. »Ich fand die Führung klasse«, sagt sie. »Sie hat einen guten Einblick gegeben, und ich kann mir nun vorstellen, was die Synagoge für die Dresdner Juden bedeutet.« Und die 26-Jährige ergänzt: »Ich finde es toll, dass die Gemeinde das Stadtfest nutzt, um zu zeigen, was sich hinter ihren Mauern verbirgt. Jetzt interessiert mich, genauer zu erfahren, wie Juden heutzutage ihren Glauben leben.« Dazu wird die Dresdnerin schon bald Gelegenheit haben. Zum Tag des offenen Denkmals am 9. September lädt die Gemeinde erneut zur Besichtigung.