von Christian Böhme
Deutschland, das war für ihn eine Sache des Vertrauens. Aber Deutschland ließ Paul Spiegel auch zweifeln. Ja manchmal ließ seine Heimat ihn sogar verzweifeln. Vor allem seine zweite Amtszeit als Präsident des Zentralrats setzte ihm sichtbar zu. Es kostete Kraft, viel Kraft. Und oft fühlte er sich von der Mehrheitsgesellschaft und ihren Vertretern allein und im Stich gelassen. Seine Hilferufe blieben ungehört. Und dieses Schweigen dröhnte in seinen Ohren.
Das alltägliche Weghören und Wegschauen – es zermürbte Paul Spiegel. Wie sonst wäre es zu erklären, was er vor einem Jahr in einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« bekannte: »Mein Vorgänger Ignatz Bubis hat zum Ende seines Lebens ein Interview gegeben mit dem Tenor ›Ich habe nichts oder fast nichts bewirkt‹. Damals gab es einen großen Aufschrei. Ich habe ihm auch gesagt: ›Ignatz, du hast so viel bewirkt, das stimmt doch nicht.‹ Jetzt aber kann ich ihn verstehen. Der Antisemitismus ist schlimmer geworden, das hätte ich damals nicht für möglich gehalten. Du kannst machen, was du willst, du erreichst nichts. Genau das ist der Punkt, an dem ich jetzt bin.« Auch das ein Hilferuf. Doch von einem Aufschrei der Angesprochenen war nichts zu hören. Der Aufstand der Anständigen, er hat ihn herbeigesehnt. Vergeblich.
Dabei war Paul Spiegel in der ersten Zeit an der Spitze des Zentralrats noch guter Dinge. Doch wie löchrig das ganze Fundament tatsächlich ist, auf dem das deutsch-jüdische Haus in den vergangenen Jahrzehnten errichtet wurde, mußte er während der Möllemann-Affäre schmerzlich erfahren. Da griff ein FDP-Mann aus der vordersten Reihe seinen Freund, Vertrauten und Stellvertreter Michel Friedman mit einem antisemitischen Flyer und wü-sten Beschimpfungen an. Und? Nichts. Wo waren die Vertreter der Kirchen, der Gewerkschaften und der anderen gesellschaftlichen Gruppen? Und wo war die Politik? Es dauerte eine unfaßbare Ewigkeit, bis die Spitze der Liberalen um Guido Westerwelle dem unverschämten Treiben des Populisten aus Nordrhein-Westfalen ein Ende setzte. Wie konnte das nur möglich sein? In seiner Heimat. Spiegel wußte keine Antwort. Er konnte es einfach nicht fassen. Der Boden unter seinen Füßen begann zu wanken. Dieses Gefühl der Unsicherheit drückte sich auch im Titel seiner Erinnerungen aus: Wieder zu Hause? Auf das Fragezeichen legte er großen Wert. Doch trotz all der Zumutungen hat Spiegel nie einen Zweifel daran gelassen, wo er hingehörte. »Ich würde nicht in Deutschland leben, wenn ich nicht gerne hier leben würde.«
Anders als sein Vorgänger Ignatz Bubis wollte Spiegel auch nicht in Israel, sondern in Deutschland begraben werden. Kein Zweifel: Der jüdische Staat war ihm wichtig, vielleicht wichtiger, als er es die Öffentlichkeit wissen ließ. Doch sein Zuhause, das war eben Düsseldorf. Von dort aus wollte er für Verständnis zwischen Juden und Nichtjuden werben. Was ist koscher hieß Spiegels zweites Buch. Es bedeutete ihm viel, auch wenn manch einer ihn ob seines naiv anmutenden Aufklärungsdranges belächelte. Doch eine simple Überzeugung spornte den Zentralratspräsidenten an, in die nichtjüdische Öffentlichkeit hineinwirken zu wollen: Das Fremde macht Angst. Also mußte etwas gegen diese Angst getan werden. Vielleicht half auch das ihm dabei, mit Deutschland, mit seiner Heimat zurechtzukommen.
An diesem Donnerstag wird Paul Spiegel in Düsseldorf beigesetzt. Am 28. Mai will der Zentralrat der Juden in Deutschland mit einer Gedenkfeier von ihm Abschied nehmen. Der Zentralrat hat an seinem Sitz im Berliner Leo-Baeck-Haus, Tucholskystraße 9, ein Kondolenzbuch ausgelegt. Bis zum 15. Mai können Besucher ihre Anteilnahme zum Ausdruck bringen: Montag bis Donnerstag von 9 bis 17 Uhr und Freitag von 9 bis 14 Uhr.