Organentnahme

Auf Leben und Tod

von Wladimir Struminski

In der vergangenen Woche hat die Knesset das »Hirntod-Gesetz« verabschiedet. Diesem Gesetz zufolge dürfen nur solche Ärzte den Hirntod bestimmen, die dazu von einem – erst zu schaffenden – Lenkungsausschuss des Gesundheitsministeriums ermächtigt worden sind. Diese Festlegung, in Abstimmung mit Vertretern des Oberrabbinats und anderen Schriftgelehrten verabschiedet, soll es religiösen Juden er-
leichtern, Organspenden von Hirntoten zuzustimmen. Wichtig wäre es allemal: In Israel warten rund 800 Patienten auf eine lebensrettende Transplantation. Dem gegenüber werden pro Jahr nicht einmal 300 benötigte Organe gespendet.
Ob Hirntote wirklich als Verstorbene zu betrachten sind, ist im Judentum umstritten. Ein Teil der Rabbiner erkennt den Hirntod als das Ende des Lebens an. An-
hänger dieser Denkrichtung stützen sich auf die Tatsache, dass bei einem Hirntoten keine selbständige Atmung mehr möglich ist. Das reicht aus ihrer Sicht aus, um eine Organentnahme zu erlauben. Zwar bedeutet die Organentnahme eine Entweihung der Totenwürde. Das ist gewiss ein schwerwiegender Verstoß gegen die Halacha. Allerdings wird er durch das Prinzip der Lebensrettung mehr als aufgewogen. Da-
gegen sieht die strengere halachische Denkschule nur den endgültigen Herzstillstand als konstituierendes Merkmal des Lebensendes. Der Hirntote ist deshalb allenfalls kritisch krank oder todgeweiht, aber eben nicht tot. Daher, so eine Konsequenz dieser Definition, bedeutet die Or-
ganentnahme bei Hirntoten Mord und muss auch dann unterbleiben, wenn da-
durch die Rettung anderer Leben verhindert wird. Da der Herztod meist nach dem Hirntod eintritt, sind die Organe in vielen Fällen nicht mehr verpflanzungsfähig.
Nach den geltenden Gesetzen der Knesset war die Organentnahme von Hirntoten für Transplantationszwecke auch bisher erlaubt. Allerdings ist das nur mit Zustimmung der Hinterbliebenen möglich, und viele traditionelle oder religiöse Familien richten sich nach den Empfehlungen ihrer Rabbiner. Nun aber hatten viele Schriftgelehrte, die den Hirntod grundsätzlich an-
erkennen, Angst vor vorzeitiger Organentnahme durch Transplantationsmediziner. Dieses Misstrauen zu überwinden, ist der eigentliche Zweck des vom nationalreligiösen Knessetabgeordneten der Regierungspartei Kadima, Otniel Schneller, auf den Weg gebrachten Gesetzes. Schneller hatte es verstanden, die gesetzgeberische Lö-
sung des Dilemmas im Einvernehmen mit dem religiösen Establishment zu erzielen. Selbst der geistige Mentor der ultraorthodox-sefardischen Schas, Rabbiner Ovadja Josef, stimmte der Neuregelung zu. Das könnte einem Teil seiner Anhänger die Or-
ganspende erleichtern. Auf jeden Fall stimmten Schas-Abgeordnete für die neue Regelung.
Das Gesetz sieht vertrauensbildende Maßnahmen vor. So müssen Ärzte den Angehörigen des Hirntoten auf Wunsch die medizinischen Unterlagen aushändigen. Bevor die Familie der Organentnahme zustimmt, darf sie die Befunde einem Experten ihrer Wahl, einschließlich eines Rabbiners, vorlegen. Der neue Lenkungsausschuss, dessen Schaffung in einem gleichzeitig verabschiedeten Organtransplantationsgesetz verankert wurde, wird die Transplantationspraxis überwachen. Dem Gremium muss auch eine »Persönlichkeit des religiösen Lebens« angehören, die nach Beratungen mit dem Oberrabbinat ernannt werden soll. Damit erhalten die Oberrabbiner zumindest einen gewissen Einfluss auf das Verfahren. Dagegen konnte die Ärzteschaft das Ansinnen abwehren, Rabbiner an der Todesfeststellung zu beteiligen. Dies, so der Vorsitzende des israelischen Ärztebundes, Joram Blaschar, sei ausschließlich ein medizinischer, kein religiöser Akt. Damit die Neuregelung praktisch vorbereitet werden kann, tritt das Gesetz erst in vierzehn Monaten in Kraft.
Die halachische Debatte über den Hirntod kann und wird das Gesetz natürlich nicht beenden. Eher im Gegenteil. Die Verabschiedung der Neuregelung hat die Gegner der Hirntodanerkennung in verstärktem Maße auf den Plan gerufen. Zwei führende ultraorthodoxe Rabbiner, Josef Schalom Eljaschiw und Salman Auerbach bekräftigten ihre Ablehnung des Hirntod-Prinzips. Wer einem Menschen, dessen Herz noch schlage, ein Organ entnehme, mache sich, so die beiden Schriftgelehrten in einer gemeinsamen Erklärung, »des Blutvergießens« schuldig. Zugleich kritisierten sie »diejenigen, die die Welt der Halacha an die Welt der Moderne anpassen wollen« – ein Seitenhieb auf Rabbiner Josef, der sich durch seine Haltung der Ge-
genseite angeschlossen hat.
Erst recht kein Blatt vor den Mund nahm die ultraorthodoxe »Gemeinde der Gottesfürchtigen«, Eda Charedit. Ihre Stellungnahme zum neuen Gesetz überschrieb sie mit den Worten des sechsten Dekalog-Gebotes, »Du sollst nicht morden«. »Die Knesset der Häretiker hat ein Gesetz verabschiedet, das bei Hirntod den Mord erlaubt«, hieß es wörtlich weiter; die Ärzte werden vor »Beihilfe zum Mord« gewarnt. Um Hirntodtransplantationen zu verhindern, drohte die Eda Charedit eine »Großkampagne« an.
Es gibt aber auch das andere Ende des Spektrums: Die Kranken, die ohne eine Organspende nur noch eine kurze Zeit leben können. Für die bedeutet das Gesetz einen Hoffnungsschimmer. Das israelische Zentrum für Organtransplantationen hofft, das die Neuregelung bis zu 200 Menschenleben pro Jahr retten kann.

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