von Wladimir Struminski
Glaube und Medizin sind nach jüdisch-religiösem Verständnis traditionell eng verbunden. Auf der einen Seite hält Gott das Leben jedes Einzelnen in seinen Händen. Deshalb muss der Erkrankte zum Schöpfer um Genesung beten. Auf der anderen Seite aber hat Gott die Ärzte befugt, Erkrankte zu heilen. Daher dürfen sich Kranke parallel zum Gebet ärztlich behandeln lassen, ohne sich damit eines Mangels an Gottvertrauen schuldig zu machen. Mehr noch: Nach der Halacha muss der Kranke sogar die Hilfe eines Arztes suchen. Ihrerseits dürfen Ärzte den Kranken behandeln, ohne dass sie sich damit eine Gott allein zustehende Rolle anmaßen. Um Menschenleben zu retten, dürfen sie, wie alle anderen Juden auch, sogar fast alle Mitzwot übertreten (mit Ausnahme von Götzendienst, Inzest und Mord).
Solche klaren theoretischen Grundlagen bedeuten aber keineswegs, dass bei der konkreten Anwendung moderner Medizintechnik keine halachischen Prob-leme auftreten. Wie bei vielem Anderen im Judentum geht es dabei um Definitionsfragen. Ein herausragendes Beispiel ist die Organtransplantation. In der Frühphase der Transplantationsmedizin war die Überlebensquote der Organempfänger so gering, dass der Eingriff allgemein nicht als Lebensrettung gelten konnte. Isser Jehuda Untermann, in den sechziger und siebziger Jahren Israels aschkenasischer Oberrabbiner, bezeichnete deshalb damals Herztransplantationen als doppelten Mord: am Organspender wie am Organempfänger. Erst als die Überlebensquoten nach oben gingen, änderte sich die Einstellung. 1986 erlaubte das israelische Oberrabbinat unter bestimmten Bedingungen Herztransplantationen. In ihrer Entscheidung wiesen die Rabbiner unter anderem auf die Tatsache hin, dass damals bereits 70 Prozent der Herzempfänger bis zu fünf Jahre lang nach der Operation überlebten. Heute gelten Organverpflanzungen den meisten rabbinischen Autoritäten sogar als lebensrettende Maßnahme und damit als Mitzwa.
Halachisch weiter umstritten ist allerdings bei Organspenden von Verstorbenen, wie der Eintritt des Todes definiert werden soll. Eine große Zahl von Rabbinern sieht im nachweislich unwiderruflichen Absterben des Stammhirns ein sicheres Anzeichen des Todes. Diese Schriftgelehrten berufen sich auf die halachische Denkschule, derzufolge das endgültige Aussetzen der Atmung ein Todesbeweis ist. Ohne Stammhirn ist autonome Atmung nicht möglich. Und durch moderne Technologie lässt sich das Absterben des Stammhirns mit ausreichender Sicherheit nachweisen. Eine andere, strengere Auslegung verlangt jedoch zusätzlich dazu den vollen Stillstand des Herzens. Eine Organentnahme bei künstlich beatmeten Hirntoten ist nach dieser Lehrmeinung Mord und damit strikt verboten, während die Anhänger der weiteren Auslagerung darin nur eine – zwecks Rettung eines anderen Lebens erlaubte – Verletzung der Totenwürde sehen.
Die Frage hat auch das Wissenschaftlich-Technologische Halacha-Institut in Jerusalem beschäftigt. Sein Direktor, Rabbiner Levi Jitzchak Halperin, akzeptiert zwar den Hirntod als Todeseintritt, verlangt aber in jedem Einzelfall zusätzlich eine kompetente rabbinische Autorität zu konsultieren.
Doch nicht nur das Lebensende, sondern auch der Lebensanfang beschäftigt die halachischen Gutachter. Schließlich ist die Weisung »Seid fruchtbar und mehret euch« das allererste im Pentateuch erwähnte Gebot. Deshalb nimmt künstliche Befruchtung einen prominenten Platz in der rabbinischen Debatte ein. Grundsätzlich besteht Einigkeit darüber, dass die Frau sich mit dem Samen ihres Ehemannes befruchten lassen darf. Allerdings bestehen viele führende Autoritäten darauf, dass die Befruchtung selbst, soweit möglich, innerhalb des Körpers der Frau und nicht im Reagenzglas stattfindet. Damit soll sichergestellt werden, dass die Frau einwandfrei als Mutter des Kindes gilt. Muss hingegen der Fötus von einer Leihmutter ausgetragen werden, gilt das genaue Gegenteil: Die fremde Frau darf nur eine bereits befruchtete Eizelle empfangen, damit nicht sie nach der Halacha als Mutter anerkannt werden muss.
Noch komplizierter wird es beim Thema Samenspenden. Hier gehen die rabbinischen Meinungen auseinander. Die strengere Denkschule empfiehlt der Frau, sich bei unheilbarer Unfruchtbarkeit des Ehegatten scheiden zu lassen und einen anderen Mann zu heiraten. Andere Rabbiner lassen hingegen Samenspenden von Fremden zu. Das allerdings wirft besondere halachische Fragen auf. Ist der unfruchtbare Ehemann beispielsweise ein Kohen (Nachfahre der Tempelpriester), geht der Priesterstatus nicht auf den per Samenspende gezeugten Sohn über. Der muss dann entweder die für Kohanim geltenden Sondervorschriften ohne Not einhalten, etwa das Verbot, eine geschiedene Frau zu heiraten, oder aber seine wahre Herkunft enthüllen. In einem bekannt gewordenen Fall hat das israelische Gesundheitsministerium aus diesem Grund einem Kohen und seiner Frau ausnahms- weise erlaubt, für das Kind von vornherein das weibliche Geschlecht zu wählen. Töchter von Kohanim erben den Priesterstatus nämlich nicht.
Ein weiteres vom technologischen Fortschritt auf die rabbinische Tagesordnung gesetztes Thema ist die Stammzellforschung. Grundsätzlich wird sie als wissenschaftlich-medizinischer Fortschritt gebilligt, dessen Ergebnisse Menschenleben retten oder die Gesundheit erheblich verbessern können. Das halachische Problem betrifft die Embryonen, aus denen die Stammzellen gewonnen werden können. Es handelt sich um überschüssige Embryonen, die bei künstlicher Befruchtung anfallen. Zwar gilt das Leben eines Fötus bis zum Geburtsvorgang nicht als demjenigen der Mutter gleichgestellt. Deshalb ist nach jüdischem Religionsgesetz auch eine Abtreibung statthaft, wenn die Schwangerschaft das Leben der Frau gefährdet. Dennoch genießen Ungeborene im Mutterleib einen stark ausgebauten Schutz. Ihre Tötung für Forschungszwecke ist nicht statthaft. Anders hingegen bei Retortenembryos, die niemals im Körper einer Mutter waren. Sie dürfen, so die Mehrheit der rabbinischen Autoritäten, zwecks Gewinnung von Stammzellen getötet werden. Damit wiegt die mit der Stammzellforschung verbundene Aussicht auf medizinischen Fortschritt schwerer als der den Embryos zuerkannte Lebensschutz.
In der nächsten Folge: »Himmel und Erde«– die Tora gilt nicht nur auf unserem Planeten. Halachische Regeln für die Raumfahrt.