von Kilian Kirchgessner
Nach 45 Jahren ist Alexej Kusak zum ersten Mal wieder in Liblice. Das Barockschloss strahlt noch prächtiger als 1963, und der französische Park mit seinen jungen Buchsbaumhecken ist fürstlich herausgeputzt. »Das war damals schon wunderbar: Die Rosen haben geblüht, wir hatten ja gerade Mai. Und wenn während der Konferenz ein wenig Zeit war, bin ich rausgegangen zum Spazieren und habe den Vögeln zugehört.« 33 Jahre alt war Kusak damals. Er gehörte zu den Initiatoren der Kafka-Konferenz, die als einer der Auslöser des Prager Frühlings 1968 gilt.
Heute ist Kusak fast 80 Jahre alt, ein kleiner Mann voller Energie, und einer der letzten Zeitzeugen von damals. Auf der neu aufgelegten Kafka-Tagung 45 Jahre nach der legendären ersten Konferenz, ist er einer der Ehrengäste. Die anderen Teilnehmer sind eine, manche auch zwei Generationen jünger, sie kommen aus Tschechien und aus Deutschland und sind ge- trieben von einer Frage: Wie kam es, dass in Kafka so viel politischer Sprengstoff steckte, dass er eine unerwartete politische Liberalisierung auslösen konnte?
Die Woge, die von der Konferenz in Liblice ausging, war in der Tat gewaltig. Mit ihr begann eine offene gesellschaftliche Diskussion in der damaligen Tschechoslowakei, die fünf Jahre später in eine politische Reformbewegung mündete. »Die 60er-Jahre waren eine Ausnahmesituation«, erklärt der Historiker Oldrich Tuma vom Prager Institut für Zeitgeschichte: »Das Interesse an der Kultur ersetzte die Einmischung in die Politik, die nicht möglich war. Deshalb stand selbst ein Autor wie Kafka, der sich ja mit seinem Anspruch eigentlich nicht an ein großes Publikum richtet, im Mittelpunkt des Interesses.« Aufgehängt an Kafkas Werk, begann eine Debatte über die menschliche Entfremdung auch im Sozialismus; bis dahin war der Begriff im marxistischen Sprachgebrauch exklusiv für den Kapitalismus reserviert gewesen. Schon allein deshalb war die Kafka-Konferenz kein Eliten-Phänomen, von dem nur einige Wissenschaftler etwas mitbekommen hätten. Selbst das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel widmete der Tagung damals einen Bericht, so bahnbrechend war allein ihr Zustandekommen.
Auch die Dogmatiker in Partei und Regierung der CSSR und anderer Ostblockländer sahen das so. Später, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, markierten sie die Kafka-Konferenz als Beginn der »ideologischen Konterrevolution«. Sie wiesen dabei gern auch darauf hin, dass in Liblice »Zionisten«, sprich Juden, an vorderster Stelle beteiligt gewesen waren, wie der Prager Germanist Eduard Goldstücker, der die Konferenz organisiert hatte. In der Tat waren viele der Initiatoren und Teilnehmer jüdisch. Mit Verschwörung hatte das aber nichts zu tun. »Die meisten Prager Germanisten hatten jüdische Wurzeln«, erklärt Alexej Kusak, der selbst aus einer jüdischen Familie stammt und als einer von wenigen aus seiner Verwandtschaft den Holocaust überlebte. »Diese Germanisten waren in der tschechisch-jüdisch-deutschen Kulturmelange der Zwischenkriegszeit aufgewachsen und sprachen schon im Elternhaus Deutsch. Damit zählten sie zu den letzten deutschsprachigen Tschechen.« Die Sprache des westlichen Nachbarlandes war in der Tschechoslowakei seit der deutschen Besatzung verpönt. Auch Kafka fiel diesem Bann zum Opfer: Wenn überhaupt von ihm die Rede war, dann als »tschechischer Autor«. Dass er auf Deutsch geschrieben hatte, wurde von den Kulturkadern geflissentlich verschwiegen.
Wahrscheinlich, meint Kusak, war das sozialistische Regime einfach überfordert mit Franz Kafka, dem deutschsprachigen Schriftsteller aus Prag. »Wissen Sie, Kafka war damals ein höchst verdächtiger Autor, weil von ihm niemand wusste, wo man ihn einordnen sollte«, erinnert er sich. »War er ein bourgeoiser Schriftsteller, verbreitete er dekadente Gedanken oder verdarb er sogar die Jugend?«
»Kafka war damals so eine Art Test«, glaubt der Heidelberger Literaturwissenschaftler Roland Reuß, der gemeinsam mit der Bundeskulturstiftung die Neuauflage der Kafka-Konferenz organisiert hat. »Die Intellektuellen probierten immer wieder, wie weit sie gehen konnten, ehe das Regime einschritt.« Dass ihr Treffen in Liblice 1963 zwar nicht der Auslöser, aber doch ein entscheidender Wegbereiter für den Versuch werden würde, einen neuen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu schaffen, hatten die Teilnehmer sich allerdings kaum träumen lassen. »Wenn ich damals schon geahnt hätte, was die Kafka-Konferenz auslösen würde«, sagt Alexej Kusak, »vielleicht hätte ich dann doch nicht den Mut gehabt, die Tagung zu initiieren.«