von Wladimir Struminski
Bis vor einigen Tagen war der Fall Mosche Katsav für die Israelis sonnenklar. Der von seinem Amt suspendierte Präsident, darin war man sich einig, hat mindestens zwei seiner Mitarbeiterinnen im Fremdenverkehrsministerium und im Präsidialamt vergewaltigt. Darauf steht eine Freiheitsstrafe von bis zu sechzehn Jahren. Dieses öffentliche Stimmungsbild war monatelang durch gezielte Indiskretion der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Belas-tungszeuginnen selbst aufgebaut worden. Dass noch keine offizielle Anklage erhoben worden war, störte weder die Bürger noch die Medien, die alle pikanten Details der Affäre brühwarm an den Leser weiterreichten. Jedermann war klar: Katsav wandert hinter Gitter.
Umso größer war der Schock, als der Rechtsberater der Regierung, Meni Masus, in der vergangenen Woche das Zustandekommen einer außergerichtlichen Einigung zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Präsidenten bekannt gab. Im Rahmen des Deals ließ Masus die schwerwiegendsten Anschuldigungen gegen Katsav ersatzlos fallen. In der endgültigen Version der Anklageschrift war nur noch von sexueller Belästigung, Missbrauch der Machtposition und unzüchtigem Verhalten die Rede. Die Anklagepunkte, die Katsavs ehemalige Vorzimmersekretärin im Präsidialamt betrafen, strich Masus gänzlich heraus. Auch die Anschuldigung, die zweite Hauptzeugin vergewaltigt zu haben, mochte Masus nicht mehr aufrechterhalten. Nach der neuen Version hat der damalige Tourismusminister die Zeugin nur noch unsittlich berührt. Nach solchem Sündenablass war Katsav bereit, sich der noch verbliebenen Vergehen schuldig zu bekennen. Ihrerseits verpflichtete sich die Staatsanwaltschaft, lediglich eine auf Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe zu beantragen. Im Klartext: kein Knast. Katsav trat lediglich zwei Wochen vor Ablauf seiner regulären Amtszeit als Präsident zurück.
Einen Sturm der Entrüstung, wie er dem Deal folgte, wird man in der israelischen Geschichte selten finden. In Tel Aviv gingen 20.000 Demonstrantinnen und Demonstranten gegen Masus auf die Straße – ein präzedenzloser Protest gegen die Entscheidung eines Beamten. »Unmoralische Handlung«, geißelte bei der Demo Erziehungsministerin Juli Tamir die Entscheidung. Masus, so die Knessetabgeordnete Sahawa Gal-On, habe das Recht mit Füßen getreten. Der Rechtsberater, rügte Ex-Knessetabgeordnete Jael Dajan, habe aus den Opfern Verbrecher gemacht. »Mir stockte der Atem«, erzählte die Journalistin und Moderatorin Tali Lipkin-Schachak. »Schande« titelte in Riesenlettern die Tageszeitung Maariv. Katsav selbst machte die Lage noch schlimmer, als er stur be-
kundete, schuldlos zu sein. Der außergerichtlichen Vereinbarung habe er nur zu-
gestimmt, um seiner Familie den Prozess zu ersparen. Ein Zeitungsinterview seiner Tochter Dganit löste ungewolltes Gelächter. »Papa umarmt, streichelt und küsst aus lauter Liebe«, schwärmte sie. Dagegen schlug der ehemaligen Vorzimmerchefin aus dem Präsidialamt Sympathie entgegen, als sie die brutalen Avancen des Staatsoberhaupts en detail schilderte.
Masus selbst rechtfertigte seine Entscheidung mit der dürftigen Beweislage hinsichtlich der Vergewaltigungen. Die Staatsanwaltschaft ließ verlauten, die Glaubwür-
digkeit der beiden Hauptzeuginnen lasse zu wünschen übrig. So etwa habe die Beschwerdeführerin aus dem Tourismusministerium Katsav nach der ihm zur Last gelegten Tat wiederholt angerufen und ihn zur Beschneidung ihres Sohnes eingeladen. Das sei kein typisches Opferverhalten.
Dennoch verfing sich Masus in Widersprüchen. An sich, so der Spitzenjurist, habe es für den Vergewaltigungsvorwurf Beweismaterial gegeben. Dieses habe er aber benutzt, um Katsavs Schuldbekenntnis bei den weniger schwerwiegenden Anklagepunkten zu erlangen. Das ließ Kritiker aufspringen: Wenn es Beweise für Vergewaltigung gegeben habe, hätte Ma-
sus entsprechend Anklage erheben müssen. »Eine unangemessene Entscheidung«, urteilte, in der Juristensprache vernichtend, der Rechtwissenschaftler Seew Segal.
Für die »Bewegung für Regierungsqualität«, die sich als Wächter der Rechtsstaatlichkeit versteht, und für mehrere Frauenorganisationen war der Kuhhandel Grund genug, Masus‹ Entscheidung vor dem Obersten Gericht anzufechten. Anfang der Woche befahl der Staatsanwaltschaft denn auch, die abgespeckte Anklageschrift erst einmal nicht einzureichen. Stattdessen forderten die obersten Richter von den Staatsanwälten, die außergerichtliche Einigung zu be-
gründen. Um die Entscheidung des Rechtsberaters zu kippen, müssten die Richter auf deren »extreme Unangemessenheit« befinden. Das ist, so die pensionierte oberste Richterin Dalia Dorner, eher unwahrscheinlich. Dennoch wird die Entscheidung des höchsten Richtergremiums mit Spannung erwartet.
Im Übrigen sind Katsavs Sorgen auch dann nicht vorbei, wenn Masus‹ Beschluss vom Obersten Gericht nicht als »extrem unangemessen« annulliert wird. Das Jerusalemer Amtsgericht, vor dem gegen Katsav verhandelt wird, muss sich zwar an die Anklagepunkte, nicht aber an das von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafmaß halten. Das bedeutet, dass dem Ex-Präsidenten selbst ohne eine revidierte Anklageschrift vielleicht doch noch der Gang ins Gefängnis droht.