von Harald Neuber
Der Referent an diesem Juniabend verspätet sich erheblich. Für 8.30 Uhr hatte sich der Präsidentschaftskandidat im Gemeindezentrum Berg Sinai bereits angekündigt. Doch die Gäste im überfüllten Saal warten geduldig, fast anderthalb Stunden lang. Dann endlich kommt er: Andrés Manuel López Obrador.
Obrador galt in den Umfragen lange Zeit als aussichtsreichster Kandidat für das Präsidentenamt in Mexiko. Die Gegner verteufeln den Sozialdemokraten von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) als verkappten Diktator. In den Kampagnen vor der Präsidentschaftswahl am 2. Juli verglichen sie den bisherigen Bürgermeister von Mexiko-Stadt wahlweise mit dem Autokraten Luis Echevarría, der das Land in den siebziger Jahren mit harter Hand beherrschte, oder mit Hugo Chávez, dem linksnationalistischen Staatschef Venezuelas. Seine Anhänger nennen ihn voller Respekt El Gallo: Kampfhahn, Peje: Raubfisch, oder nach den Initialen seines Na- mens Amlo.
Das Zentralkomitee der jüdischen Gemeinde Mexikos (CCCJM) hatte López Obrador in das wohlhabende Wohnviertel Tecamachalco im Nordwesten von Mexiko- Stadt eingeladen, um den Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, sich vor der Wahl über dessen politisches Programm zu informieren, wie es später in einer Pressemitteilung heißt. Auch den anderen Kandidaten hatte man die Gelegenheit gegeben, sich vorzustellen.
Das ist neu in Mexiko. Von 1929 bis zum Jahr 2000 wurde der südliche Nachbar der USA von nur einer Partei beherrscht. Ganze 71 Jahre lang ließ die Partei der Institutionellen Revolution (PRI) keine eigenständige Opposition zu. Die Bildung konkurrie- render Gruppierungen wurde bis in die sechziger Jahre durch eine national-korporatistische Politik verhindert. Als Ende der sechziger Jahre die sozialen Widersprüche und die Proteste zunahmen, begann die PRI-Regierung einen offenen Krieg gegen die Opposition. Das Massaker von Tlatelolco, bei dem im Oktober 1968 im Zentrum der Hauptstadt Hunderte Studenten ermordet wurden, oder der Krieg gegen eine bäuerliche Guerilla im Süden waren ebenso Folgen des wirtschaftlichen Abstiegs wie der politischen Stagnation.
In den vergangenen Jahren aber hat sich die mexikanische Politik rasant verändert. Bei den vorletzten Präsidentschaftswahlen vor sechs Jahren gelang es dem amtierenden Präsidenten Vicente Fox von der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN), die jahrzehntelange Herrschaft der PRI zu beenden. Und schon die zweiten demokratischen Wahlen scheinen aufregender zu werden als erwartet. Der Kandidat der PAN, Felipe Calderón, und der Linke López Obrador lagen nach ersten Auszählungen fast gleichauf. Nur rund ein Prozentpunkt trennte die beiden Präsidentschafts- anwärter nach dem Urnengang am 2. Juli voneinander, und am Tag nach der Wahl mußte die zuständige Behörde eingestehen, daß drei Millionen Stimmen verloren gingen. Inzwischen hat sich Calderón zum Wahlsieger erklärt. Konkurrent Obrador erkennt den Erfolg nicht an und will den Urnengang überprüfen lassen.
Die Öffnung der Parteienlandschaft und die neue demokratische Kultur in Mexiko hat auch die jüdische Gemeinde vor Herausforderungen gestellt. Kurz bevor Anfang Juni ein TV-Duell der Präsidentschaftskandidaten ausgestrahlt wurde, veröffentlichte das CCCJM eine Erklärung. Die Gemeinde unterstütze keine der politischen Parteien und keinen der Kandidaten, hieß es darin. Zudem würden die Mitglieder nicht zu einem bestimmten Votum angehalten. Ganz in Gegenteil: Man fordere die politische Verantwortung eines jeden einzelnen ein, nach der individuellen Überzeugung zu entscheiden. »Als Bürger aber hoffen wir auf Projekte und Vorschläge«, hieß es in der Erklärung.
Diese Stellungnahme und die Treffen mit den Präsidentschaftskandidaten belegen die Bedeutung der jüdischen Gemeinde in Mexiko, die mit rund 50.000 Mitgliedern größer ist als in manchem anderen Land der Region. Einen Trend zur Auswanderung nach Israel, wie er in Südamerika zu verzeichnen ist, gibt es in Mexiko nicht – was maßgeblich auf die wirtschaftliche und politische Stabilität zurückzuführen ist. Die meisten Gemeindemitglieder leben in Wohngebieten der Mittelklasse außerhalb der Millionenmetropole Mexiko-Stadt. Jüdische Gruppen sind zudem in Guadalajara, Monterrey und Tijuana angesiedelt.
Es gibt einen weiteren Unterschied zu Südamerika: Die Gemeinde in Mexiko ist relativ jung. Sie reicht mehrheitlich nicht in die Kolonialzeit zurück, sondern ist erst zu Beginn des 20. Jahrhundert entstanden, als Juden aus dem Nahen Osten, dem Balkan und Osteuropa vor antisemitischen Übergriffen flohen. Eine weitere Immigrationswelle erreichte Mexiko in den dreißiger und vierziger Jahren. Auch die heutigen Gemeindestrukturen sind in dieser Zeit entstanden. Das CCCJM etwa wurde in Mexiko-Stadt am 9. November 1938 gegründet, um Fluchthilfe für europäische Juden zu organisieren.
Seither hat die Gemeinde vor allem darauf geachtet, die guten Beziehungen zu der Regierung zu halten. Die politische Stagnation des Landes spiegelte sich auch in der Gemeinde wider. Doch auch der Wandel ist offensichtlich. »Unsere Mitglieder sind heute in den verschiedenen Parteien aktiv, einige haben auch Funktionen im Wahlkampf innegehabt«, sagt Mauricio Lulka, der Generaldirektor des Zentralkomitees im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Die Gemeinde selbst bewahre aber ihre Neutralität. »Darauf haben wir mit der Erklärung Anfang Juni hinweisen wollen«, sagt Lulka, »weil einige Medien dazu tendieren, zivilgesellschaftliche Gruppen mit der einen oder anderen Partei in Verbindung zu bringen.«
Der jüdischen Gemeinde wurde im Wahlkampf unterstellt, den linken Kandidaten López Obrador zu unterstützen. Immer wieder wurde etwa auf die jüdische Konfession von Claudia Sheinbaum hingewiesen, die maßgeblich an der Wahlkampagne López Obradors beteiligt war und die bislang dem Umweltressort in der Hauptstadt-Regierung vorstand. Wie selbstverständlich erklärte ein Journalist des Privatsenders TV Azteca noch am Wahltag, daß »die jüdische Gemeinde in der Hauptstadt López Obrador unterstützt«. Daß schon im Kabinett des amtierenden Präsidenten Fox vier prominente jüdische Politiker zu finden waren, fand kaum Erwähnung.
In New Yorker jüdischen Zeitung Forward wies Ilan Stavans, Lateinamerikanist und Nachkomme osteuropäischer Juden, auf den Umbruch in der Gemeinde Mexikos hin. Diese sei heute »pluralistischer und sie beschreitet neue kulturelle und politische Wege«, sagt Stavans, der am amerikanischen Amherst College lehrt: »Doch ich würde auch sagen, daß der Wandel gerade erst begonnen hat.«