Als der letzte Satz gesprochen und das Licht auf der Bühne allmählich erloschen war, deutete nichts darauf hin, dass im Mülheimer Theater an der Ruhr soeben eines der umstrittensten Schauspiele der deutschen Theatergeschichte uraufgeführt worden war. Anders als 1985, als im Frankfurter Schauspiel Fassbinders Drama Der Müll, die Stadt und der Tod zum ersten Mal inszeniert werden sollte, gab es dieses Mal keine Proteststürme oder aufgebrachte jüdische Demonstranten, die die Bühne blockierten und die Aufführung verhinderten. Nicht einmal ein Buh-Ruf war zu vernehmen. Stattdessen setzte, als der Vorhang fiel, begeisterter, minutenlang andauernder Beifall ein. Die Zuschauer – neben Pressevertretern ausschließlich geladene Gäste – riefen Bravo, stampften mit den Füßen und verstärkten ihren Applaus noch einmal hörbar, als Roberto Ciulli, der Regisseur der Inszenierung, die Bühne betrat, sich verbeugte, seinem Publikum gut gelaunt dankte und unzählige Glückwünsche entgegennahm.
travestie-show Auch in den meisten Feuilletons war anschließend zu lesen, Ciulli habe eindrucksvolle Bilder für den in der Gesellschaft nach wie vor vorhandenen Antisemitismus gefunden. Geraten Theaterkritiker sonst nicht selten wegen marginaler Detailfragen in Streit, herrschte diesmal weitgehend Einigkeit. Die Westdeut- sche Allgemeine Zeitung urteilte, dass Ciullis Inszenierung »eine leidenschaftliche Klage über die Kälte in der Welt« sei. Der Regisseur habe gezeigt, dass Fassbinders Drama in den vergangenen Jahrzehnten »sinnlos« Angst und Wut hervorgebracht habe. Die Welt sprach gar davon, der Zentralrat der Juden in Deutschland habe nicht aus Entrüstung über das Stück dessen Verbot gefordert, vielmehr sei es nur eine Pflichtübung gewesen.
Doch keineswegs ohne Grund war Stephan J. Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, nach einem Besuch der Proben der Meinung gewesen, das Schauspiel solle nicht aufgeführt werden, da es die »Charaktere schab-lonenhaft und mit den üblichen Klischees behaftet« darstelle. Kramers Worte waren noch diplomatisch formuliert. Tatsächlich war Ciullis Aufführung – die schauspielerischen Leistungen der Darsteller ausgenommen – ganz und gar missraten. Sie glich einer geschmacklosen, auf billige, vor allem antisemitische, Kalauer abzielenden Travestie-Show: Eine lustvoll dargebotene Ästhetisierung antisemitischer Tiraden und Stereotype, deren Hintergrund das Geräusch einströmenden Gases und der sich in regelmäßigen Abständen öffnende Ofen von Auschwitz bildete.
aufklärung? Da half es auch nichts, dass das Drama in zwei weitere Stücke von Fassbinder eingebettet wurde und der Judenhass hier im Gewand der Aufklärung daherkam. Ciulli hatte im Vorfeld davon gesprochen, dass sein Stück auf den latenten Antisemitismus in Deutschland aufmerksam machen werde und stellte die kühne Behauptung auf, dass »in jedem von uns ein Antisemit steckt«. Seine Inszenierung sei notwendig, um das zu ändern. Angesichts dieser geschmacklosen, auf billige Effekte setzenden Aufführung eines Provinztheaters wird das wahrscheinlich kaum geschehen. »Es gibt eine moralische Verpflichtung, dass, wann immer man sich diesem ungeheuren Thema Holocaust nähert, das Ergebnis extrem gut sein sollte«, hat der Schriftsteller Daniel Kehlmann vor Kurzem in einem Interview mit dieser Zeitung gesagt (vgl. Jüdische Allgemeine vom 27. August, S. 17). Genau dies ist bei Ciullis Inszenierung nicht der Fall.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland und die Jüdische Gemeinde Mülheim-Oberhausen-Duisburg hatten in einer gemeinsamen Erklärung darum gebeten, das Theater möge »aus Respekt vor den wenigen Überlebenden des Holocaust und den Millionen von Toten auf die Aufführung verzichten«. Proteste wie weiland in Frankfurt/Main hatte man aber nicht organisieren wollen. Gemeindevorsitzender Jacques Marx sagte, er wolle nicht, dass Mülheim mit dieser Inszenierung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werde. So geriet der vergangene Donnerstagabend zu einem jener verstörenden Momente im deutsch-jüdischen Verhältnis, die einen, wieder einmal, ratlos zurückließen.
ausverkauft Für das Mülheimer Theater dagegen war es ein rundum gelungener Abend. Ciullis Inszenierung wurde allerorten gefeiert, ARD und ZDF berichteten von der Premiere. Das idyllisch in einem Stadtwald gelegene Schauspielhaus konnte sich anschließend vor Kartenwünschen kaum retten. Die nächsten Vorstellungen sind allesamt ausverkauft.