von Martin Schön
Belarus war um die Jahrhundertwende eine Hochburg jüdischen Lebens. Heute identifizieren sich immer weniger weißrussische Juden mit ihrem Judentum. Vor allem Liberale assimilieren sich oder resignieren.
»Die belarussischen Juden haben ihre Sprache, Kultur und nationalen Eigenheiten praktisch schon verloren«, sagt Jakov Basin. Er spricht ruhig, aber bestimmt. Seine Stimme füllt den großen Saal des ehemaligen jüdischen Theaters in Minsk. Sie klingt voll und warm, ein bisschen väterlich. Knapp hundert Delegierte lauschen gespannt dem stellvertretenden Vorsitzenden ihres Dachverbandes, der »Union jüdischer Gemeinden und Organisationen«. Auf die ersten schonungslosen Worte über das Verschwinden jüdischen Lebens erfolgt keine Reaktion. Die Rede scheint niemanden vom Stuhl zu reißen. Dabei geht Basin noch weiter: Nicht nur die jüdische Gemeinde als Organisationsstruktur sei in Gefahr, sondern die Zukunft aller belarussischen Juden. »Wir riskieren, in nächster Zukunft unser Nationalbewusstsein zu verlieren und uns vollständig zu assimilieren.« Ein Untergangsszenario. Doch das Publikum rührt sich nicht. Sie haben sich an Basins klare Worte gewöhnt. Und daran, dass sich etwas ändern wird, glaubt kaum noch jemand. Zu lange ist die Tendenz absehbar: Die Gemeinden schrumpfen, bestenfalls bleibt die Mitgliederzahl stabil, es fehlt überall an jungen Leuten.
Zwischen den nachdenklichen Gesichtern der Delegierten fällt das eines Herrn in Anzug und Brille auf, der wie versteinert auf die Rednerbühne blickt. Er heißt Leonid Guljak und ist staatlicher Bevollmächtigter für Nationalitätenfragen und Religion. Guljak weiß, was in der Rede nun fol- gen wird, und es kann ihn nicht erfreuen. Der belarussische Staat, sagt Jakov Basin, sei schuld am Niedergang des belarussischen Judentums. Denn er unterstütze die jüdischen Organisationen nicht ausreichend. Das macht seine Rede so brisant. Denn der autoritäre Präsident Lukaschenko mag keine Kritik. Er will das Bild eines blühenden Landes vermitteln, in dem alle Nationen friedlich zusammenleben. Jüdische Untergangsszenarien könnten diesem Bild einen Kratzer verpassen.
Abgesehen davon sind Juden mit jüdischer Identität und einer kritischen Meinung dem Regime ohnehin suspekt, denn die jüdischen Gemeinden haben gute Kontakte ins westliche Ausland. Da gibt es verlässlichere Partner. Nicht umsonst weist die Staatsführung in den belarussischen Religionsgesetzen explizit auf die »führende Rolle der orthodoxen Kirche« im Land hin. Mit ihr schließt der Staat Konkordate. Katholische und evangelische Kirche können davon nur träumen. Das Judentum ist sowieso außen vor.
Basin scheint die Anwesenheit des Staatsvertreters nicht zu kümmern. Er spricht Klartext, wenn er die Zukunft jüdischen Lebens in schwarzen Farben malt. Oder sollte man sagen: die Zukunftslosigkeit? Etwa 60.000 bis 70.000 Menschen jüdischer Abstammung leben in Belarus. Die meisten von ihnen halten sich nicht für Juden. Bei der letzten Volkszählung haben sich nur etwa 28.000 zum Judentum bekannt, das ist nicht einmal die Hälfte.
In der Sowjetunion war dies normal und nachvollziehbar: Juden wurden vom Staat offen diskriminiert. Wer in seinem Passantrag als Nationalität »Jude« angab, konnte sicher sein, Probleme bei der Arbeitssuche zu bekommen. Ganz zu schweigen von leitenden Positionen in Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik. Aber heute? Fünfzehn Jahre nach der belarussischen Unabhängigkeitserklärung gibt es keine staatliche Diskriminierung mehr. Warum wollen belarussische Juden sich nicht zu ihrer Kultur und Abstammung bekennen? Weil ihnen ihre Identität nicht vermittelt werde, findet Jakov Basin. Er beklagt vor allem die fehlende Infrastruktur. »Es gibt keine eigenständige jüdische Schule, keine Universität, kein einziges staatlich finanziertes jüdisches Presseorgan in Belarus«, erklärt er seinen Zuhörern, »und die jüdi- schen NGOs sind chronisch unterfinanziert.« Dabei hatte die Situation vor ein paar Jahren doch viel besser ausgesehen.
Damals hegten die jüdischen Gemeinden und ihre amerikanischen Sponsoren Hoffnung, dass sie eine junge jüdische Bildungselite schaffen könnten, die den Gemeinden wieder neues Leben einhauchen würde. Sie gründeten 1999 das Internationale Humanistische Institut (IHI), eine jüdische Universität. Das IHI existierte vier Jahre, dann wurde es vom Staat geschlossen. »Probleme bei den Finanzen«, hieß es offiziell.
»Zu viele ausländische Dozenten«, meint Ella Ideltschik trocken. Sie hat am Lehrstuhl für Judaistik des IHI studiert. Die 30-Jährige lächelt und streicht sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Das sei schon eine seltsame Sache mit ihrer Hochschule gewesen, damals. Auf einmal sei alles ganz schnell gegangen, das Institut wurde aufgelöst, und sie musste ihr Studium an der Belarussischen Staatsuniversität fortsetzen, obwohl es dort keinen jüdischen Studienschwerpunkt gab. Aber das IHI war dem Staat schon immer suspekt gewesen. Kein Wunder. Wie sich jüdische nationale Identität parallel zur belarussischen vermitteln lässt, ist im monolithischen Staats- und Identitätsverständnis des Regimes tatsächlich fraglich. Erste Konflikte müssten eigentlich bereits im Geschichtsunterricht auftreten, in dem offiziell die Sowjetunion der Heilsbringer staatlicher Unabhängigkeit war. Für die Juden war der sowjetische Alltag hingegen keinesfalls repressionsfrei.
»Entscheidend aber für die Schließung«, findet Ella, »waren die Dozenten: zu viel ausländischer Einfluss an einer belarussischen Hochschule.« Ein störendes Element in der gleichgeschalteten belarussischen Bildungslandschaft, wo der Staat Ausländer, vor allem Amerikaner und Europäer, als Träger einer feindlichen Ideologie betrachtet. Jakov Basin hätte seine Freude an Ella Ideltschiks kritischer Meinung.
In der Synagoge der Judaistischen Religiösen Vereinigung sieht man das anders. In dem kleinen Nebenraum des frisch renovierten Gemeindehauses, wo der Gottesdienst normalerweise stattfindet, lehnt sich Rabbiner Avraham an eine der schlichten Holzbänke. Er lächelt und streicht sich durch seinen langen rotbraunen Bart. Seit Kurzem ist der 33-Jährige einer der einflussreichsten Rabbiner in Belarus. Von den orthodoxen Juden wird er als geistiges Oberhaupt angesehen, seine Organisation vertritt etwa 5.000 jüdische Familien. Er will nicht den repressiven Staat für die Probleme der jüdischen Gemeinden verantwortlich machen.
Der Feind, meint Avraham, lauere in den eigenen Reihen. »Die sogenannten progressiven Juden verraten unsere Bräuche, die Stärke unseres Volkes seit Tausenden von Jahren!« Von liberalen Juden wie Jakov Basin, die sich lediglich im nichtreligiösen Bereich jüdischen Lebens engagieren, will der Rabbiner gar nicht erst sprechen. Soziale Unterstützung und Bildung von Religion zu trennen, erscheint ihm zumindest fragwürdig. Sein freundliches Lächeln ist schon länger verschwunden, aber nun blickt der nette junge Mann auf einmal wütend und angriffslustig. Seine Stimme wird schneller, sie überschlägt sich. Das Thema Juden, die von Traditionen abweichen, hat ihn aufgebracht. »Eigentlich kann man diese Leute gar nicht Juden nennen. Sie haben einen geistigen Holocaust an dem jüdischen Volk zu verantworten, der vermutlich mehr Juden aus unseren Gemeinden vernichtet hat als die physische Auslöschung durch die Nazis!«
Nach Avrahams Definition wäre Jakov Basin so ein gefährlicher »Nichtjude«. Oder Ella Ideltschik, die zwar ihren dreijährigen Sohn in einen jüdischen Kindergarten schickt, aber den Schabbat nicht hält. Und sich auch nicht sicher ist, ob sie sich als Jüdin bezeichnen soll. »Ich hatte so eine religiöse Phase«, erinnert sich die 30-Jährige, »das war mit 16.« Im Nachhinein komme es ihr seltsam vor. »Das ist einfach nicht meine Welt, ich bin in einem atheistischen Elternhaus aufgewachsen.«
Wie Ella Ideltschik denken sehr viele belarussische Juden. An ihnen geht die Autorität der Tora, die normative Kraft der jahrtausendealten Tradition vorbei. Sie interessieren sich für die Kultur ihres Volkes, wollen aber ihr weltliches Leben nicht den alten Bräuchen unterordnen.
Die strenggläubigen Juden indes scheinen die letzte Bastion sichtbarer jüdischer Kultur zu sein. In Pinsk, einer Provinzstadt im Süden der Republik mit etwa 130.000 Einwohnern, fühlt sich der Besucher in die zwanziger Jahre zurückversetzt. Damals galt noch die liberale leninsche Nationalitätenpolitik, und Hitler war gerade erst Vorsitzender einer radikalen Splitterpartei geworden. In belarussischen Städten lebten etwa zwischen 40 und 80 Prozent Juden. Die jüdischen Handwerker, Kaufleute und Musiker gehörten zum Stadtbild, jüdische Kultur war allgegenwärtig, wie es Marc Chagall in seinen Traumlandschaften vom Schtetl zeigt.
Damals sah man traditionell gekleidete Juden an jeder Straßenecke – wie heute in Pinsk, einer Hochburg der Chassiden. Sie spazieren in traditioneller Kleidung durch die belarussische Provinzstadt. Auch wenn die anderen Bewohner durchaus nicht immer friedlich eingestellt sind. Ein Auto fährt vorbei, die Bremsen quietschen, »Schweine!« schallt es durch die Gasse. Rabbi Mojscha Fima und seine Brüder gehen gelassen weiter. »Gar nicht beachten«, ist ihr Kommentar. Die Chassiden lassen sich nicht vom rechten Weg abbringen. Sie konzentrieren sich auf die religiösen Höhepunkte des Lebens und beachten eisern die traditionellen Regeln. Als ein jüdischer Fotograf sie für eine Reportage am Schabbat fotografieren will, reagieren sie empört, geradezu aggressiv. Der Mann kann sich herausreden: Nur sein Vater sei Jude gewesen. Mojscha Fima beruhigt sich wieder. Der Leiter der Erziehungsprogramme der Pinsker jüdischen Gemeinde nimmt es mit der Tora sehr genau und toleriert keine Abweichler. Progressive? Er winkt verächtlich ab. »Wir hatten so eine Rabbinerin. Sie hat in London studiert und ist dann nach Israel gegangen. Dort verheiratet sie jetzt Schwule und Lesben.«
Tradition und Bräuche stehen nicht weit oben auf der Prioritätenliste von Ella Ideltischik, der 30-jährigen ehemaligen Studentin. Sie trennt zwar zwischen sich, der Jüdin, und den anderen, den Christen. Aber in die Synagoge gehen? So viel Bedeutung misst sie der Religion ihrer Väter nicht bei. Bei der Hochzeit, ja, da stellten sie und ihr Mann Kerzen ins Fenster. Ein befreundeter Rabbiner hatte sie dazu überredet. Ella rückt ihr Haar zurecht und spielt mit der Teetasse. »Na ja«, meint sie, »die Hochzeit war an einem Samstag. Es passte gerade, und wir dachten: Kerzen im Fenster schaden ja nicht.« Man könnte den Eindruck haben, es sei ihr peinlich.
Für liberale Juden ist es eng geworden in Belarus: Auf der einen Seite drückt ein Staat, der sie lieber heute als morgen zu richtigen Belarussen machen würde, damit sie weniger unangenehme Fragen aufwerfen, wie Jakov Basin sie oft stellt. Und auf der anderen Seite stehen die orthodoxen Traditionalisten wie Rabbi Mojscha Fima, der alles jenseits der wortwörtlichen Toraauslegung ablehnt, und Rabbi Avraham, der vom geistigen Holocaust durch die Liberalen spricht.
Jene atheistisch erzogene, teilweise sehr gut ausgebildete Gruppe von Belarussen, die eigentlich jüdischer Abstammung sind, stößt das eher ab. Und so scheint es, als bewahrheite sich Basins Prophezeihung vom schleichenden Untergang des Judentums in Belarus. Dem Regime kann das recht sein. Den streitenden jüdischen Gruppierungen eigentlich nicht.