Für den Publizisten und Historiker Dmitri Stratievski ist der 27. Januar ein wichtiges Datum. Der 34-Jährige kam vor zwölf Jahren als Kontingentflüchtling aus Odessa nach Deutschland, studierte Politik und Geschichte und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Schicksal von Kriegsgefangenen und Holocaustüberlebenden.
Der Tag habe seinen Eltern und Großeltern in seiner Kindheit zwar etwas gesagt, ein Gedenkdatum sei er aber auch dort nicht gewesen. Auf das Thema Holocaust wurde Dmitri Stratievski allerdings schon mit neun Jahren aufmerksam, als in seiner Schulklasse ein heftiger Streit ausbrach. Ein Mitschüler brachte von zu Hause die Meinung mit, die deutschen Faschisten hätten die Juden »zu Recht umgebracht«, und es ginge schon »in Ordnung«, dass jetzt weniger Juden in der Sowjetunion lebten. »Ich fand das ungeheuerlich, hielt dagegen, es kam zur Schlägerei«, erzählt der Historiker. »Zu Hause klärte mich mein Großvater dann über die jüdischen Wurzeln meiner Familie auf. Von da an ahnte ich die Dimensionen des Verbrechens.«
Mit dem 27. Januar habe er sich erst hier in Deutschland intensiv beschäftigt. »Ich denke, es geht den meisten Einheimischen auch so, dass die Befreiung von Auschwitz als Gedenkdatum erst vor wenigen Jahren so richtig ins Bewusstsein rückte.« Vor Kurzem habe ihn ein deutscher Freund ganz unvermittelt gefragt, ob es ihn belaste, in einem Land zu leben, das fast 20 Millionen sowjetische Zivilisten und sechs Millionen europäische Juden auf dem Gewissen hat. Ja, habe er geantwortet jedoch auch gesagt, dass er fühle, dass dieses Volk in den vergangenen Jahrzehnten auch gravierende Wandlungen durchgemacht habe. Vor allem seit den 60er-Jahren habe die deutsche Gesellschaft die Fähigkeit bewiesen, sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. »Ich habe auch nicht den Eindruck«, fügt der 34-Jährige hinzu, »dass die heutigen Gedenkveranstaltungen reine Übungen in Political Correctness sind. Ich spüre schon eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit der Nazidiktatur und all ihren Verbrechen, gerade auch unter jungen Leuten. Meine deutschen Freunde lesen und reden viel darüber, gehen auf Veranstaltungen oder auch zu Demonstratio- nen. Aber eigenartigerweise halten viele meiner russischsprachigen Freunde – auch die jüdischen – eher Abstand zu dieser Gedenkkultur.« Ein Teil der Kontingentflüchtlinge wolle offenbar nicht über deutsche Geschichte nachdenken – »paradoxerweise auch diejenigen, die eigene Vorfahren und Verwandte durch den Holocaust verloren haben.« Olaf Glöckner
Zuwanderer