zu große Nähe

Auf Abstand

von Rabbiner Yitshak Ehrenberg

Unser Urvater Jakow ging nach Ägypten mit der gesamten Familie, die etwa 70 Seelen zählte. Er ging in die Diaspora. Was unternahm er, um die Unversehrtheit der Familie zu wahren, um die Assimilierung zu verhindern? Im 1. Buch Moses 46,28 steht geschrieben: »Und Jehuda schickte er voraus, um Josef anzuweisen«, der Midrasch sagt, ihm ein »Haus der Lehre zu errichten«.
Hiervon lernt man, dass an jedem Ort, an dem Juden leben, eine Gemeinde aufzubauen ist, Synagogen, Lehrhäuser und Schulen zu errichten sind, in denen die Kinder jüdisch erzogen werden, die jüdische Tradition kennenlernen und eine jüdische Identität ausbilden. Jakow hatte Erfolg. Als er im Sterben lag rief er alle Söhne zu sich, um sich von ihnen zu verabschieden und sie zu segnen, und dann fragte er sie: »Meine Söhne, geht ihr meinen Weg, glaubt ihr an meinen Gott?« Darauf lautete die gemeinschaftliche Antwort: »Höre Israel, unser Gott, ist der eine Gott«. Dann konnte Jakow beruhigt sterben, in dem Moment, als er wusste, dass sein Weg, sein Glaube weiterbesteht, dass das Volk Israel zur Verwirklichung schreitet.
Zweitausend Jahre hat unser Volk um dieses Geheimnis gewusst: dass es ohne die Errichtung von Synagogen, Lehrhäusern, Jeschiwot, jüdischen Schulen keine Zukunft gibt. Das Land Goschen war ein Ort, an dem die Söhne Israels sich niederließen. Es war das erste Ghetto. Die Historiker sagen, dass an jedem Ort und zu jeder Zeit, die Juden es waren, die die Ghettos errichtet haben. Wie? Ein Jude, der in eine Stadt kommt, sucht als Erstes die Synagoge, und dann sucht er sich in ihrer Nähe eine Wohnung, damit er am Schabbat die Synagoge zu Fuß erreichen kann. So entsteht nach und nach ein Ghetto um die Synagoge herum, sowohl um sich von den Nichtjuden abzusondern, als auch um unter sich in einer jüdischen Atmosphäre zu leben. Die Nichtjuden haben die Mauern und Tore der Ghettos errichtet, um die Juden einzuschließen. Dank dreier Dinge wurden unsere Väter aus Ägypten erlöst: Sie haben ihre Namen, ihre Sprache und ihr Aussehen nicht geändert.
Als unser Urvater Jakow nach Erez Israel zu seinem Elternhaus zurückkommt und sich auf das Treffen mit Essaw vorbereitet, nach etwa 20 Jahren, in denen er seine Familie aufgebaut hat, bittet er Gott: »Rette mich vor der Hand meines Bruders, rette mich vor der Hand Essaws«. Die Kommentatoren fragen: Warum die doppelte Sprache, von der Hand meines Bruders, von der Hand Essaws? Er könnte doch auch sagen: von der Hand meines Bruders Essaw. Doch Jakow meinte zwei Situationen, vor denen er sich fürchtete: »vor der Hand meines Bruders« – dass Essaw vorhatte, sich zu nähern und mit ihm zusammenzuleben. Jakow fürchtete die Assimilation. Die zweite Befürchtung war, dass Essaw grausam zu ihm sein würde.
Dies sind die beiden Situationen, die das Volk Israel in der gesamten Geschichte bedroht haben. Verfolgung einerseits und zu große Nähe andererseits, der Grund der Assimilation in der Vergangenheit und auch heute. Es gibt eine schöne Fabel. Der Wind und die Sonne wetteten, wer von ihnen es schafft, dem Mann auf der Straße den Pelzmantel auszuziehen. Der Wind fing an zu wehen, und der Mann kuschelte sich fester in seinen Mantel. Je stärker der Wind wurde, desto stärker hielt der Mann seinen Mantel fest. Dann fing die Sonne an zu wärmen, dem Mann wurde heiß und er fing an zu schwitzen, bis er selber den Mantel auszog.
So wäre es: von der Hand meines Bruders, von der Hand Essaws, zwei schwierige und gefährliche Situationen, die bekämpft werden müssen. Vor mehr als ei- nem Jahr gab es einen großen Streit in der jüdischen Gemeinde, wegen des Eruw. Der Eruw wird gemacht, um den Menschen, die den Schabbat halten, das Herumtragen von Talit und Tefilin sowie das Schieben von Kinderwagen auf dem Weg zur Synagoge zu ermöglichen. Es gab eine höchst interessante Koalition zwischen den Ultraorthodoxen, die aus halachischen Gründen sehr gegen den Eruw waren. Die Weltlichen waren aus einem anderen Grund dagegen, der Eruw bildet ein Ghetto, da alle im Umkreis des Eruw wohnen würden, und sie, die Weltlichen, sind gegen Ghettos.
Das Ghetto, oder vielmehr das Wohnen in einem Ghetto, in einer jüdischen Umgebung bewahrt die Juden vor der Assimilation, stärkt ihre jüdische Identität und ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde. Wenn wir nicht genug unternehmen, um die jüdische Identität unserer Kinder, und die Tradition zu stärken, gibt es keine Zukunft für die Existenz des Judentums in Deutschland. Nur diejenigen, die eine Verbindung zur jüdischen Gemeinde und zur Synagoge pflegen, diejenigen, die ihren Kindern die Identität geben, werden überleben. Die anderen werden assimiliert und verschwinden aus unserem Volk. Deshalb ist es unsere Pflicht, alles Mögliche in der Erziehung und für die Identität zu unternehmen, jüdische Symbole und Tora zu lernen. Nur so werden wir überleben.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Berlin

Schimon Stein: Jüdisches Leben in Deutschland bleibt bedroht

»Der Schutz des jüdischen Lebens ist zum deutschen Mantra geworden«, so der Ex-Botschafter

 23.10.2024

Schloss Meseberg

Scholz dankt Katar für Vermittlung im Nahost-Krieg

Das Emirat ist Vermittler, gilt aber auch als Terror-Finanzier

 23.10.2024

Nahost

Baerbock macht sich in Beirut Bild der Lage

Die Außenministerin warnt vor »völliger Destabilisierung« des Libanon

 23.10.2024

Nahost-Krieg

London schränkt Waffenexporte nach Israel ein

Staatssekretärin Anneliese Dodds spricht von einer Begehung mutmaßlicher Kriegsverbrechen

 23.10.2024

Video

Was Sinwar kurz vor dem Überfall auf Israel machte

Die israelischen Streitkräfte haben Videomaterial veröffentlicht, das Yahya Sinwar am Vorabend des Hamas-Überfalls am 7. Oktober 2023 zeigt

 20.10.2024

Gaza

100.000 Dollar für jede lebende Geisel

Der Unternehmer und ehemalige Sodastream-CEO Daniel Birnbaum hat den »guten Menschen in Gaza« ein Angebot gemacht

 20.10.2024 Aktualisiert

Feiertage

Chatima towa, oder was?

Was von Rosch Haschana über Jom Kippur bis Sukkot die korrekte Grußformel ist

von Rabbiner Yaacov Zinvirt  24.10.2024 Aktualisiert

Baden-Württemberg

Jüdisches Mosaik in Karlsruhe beschädigt

War es ein Unfall, Vandalismus oder eine gezielte Tat?

 15.10.2024

80. Jahrestag

Gedenkstätte Sachsenhausen erinnert an ermordete KZ-Häftlinge

Auch mehrere Kinder und Enkel von Opfern nahmen teil

 14.10.2024