Wolfgang Schäuble

»Auch eine Zivilgesellschaft lernt«

Herr Minister, islamistische Terroristen haben im Internet mit Anschlägen gegen Deutschland gedroht. Ist die Gefahr abstrakt oder konkret?
schäuble: Wir haben keine konkreten Hinweise darauf, dass es einen Anschlag gibt. Tatsache ist: Wir sind Teil des weltweiten Gefahrenraums. Manch einer mag sich der Illusion hingegeben haben, wir seien weniger bedroht. Jetzt zeigt sich, dass dies nicht richtig ist. Wenn man die Ermordung eines Mitarbeiters der Welthungerhilfe in Afghanistan nimmt und sich die Videobotschaft der Islamisten anschaut, die von Österreich und Deutschland den Abzug aus Afghanistan fordern, dann muss man einfach zur Kenntnis nehmen: Wir sind durch unser Engagement am Hindukusch in den Fokus des internationalen Terrorismus gerückt. Es hat jedoch keinen Sinn, in Alarmismus zu verfallen. Wir können Anschläge nicht ausschließen. Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit. Aber Panik hilft auch nicht weiter. Da hätten die Terroristen ihr Ziel ja erreicht.

Und wenn etwas passiert?
schäuble: Dann dürfen wir dennoch nicht hysterisch reagieren. Da können wir von anderen Ländern sicherlich einiges lernen.

Aber wäre Deutschland nicht nach einem Terroranschlag ein anderes Land?
schäuble: Nein, das glaube ich nicht. Die Deutschen sind reif genug zu wissen: Wir leben schon seit 60 Jahren in einer Epoche, die man im Vergleich zu anderen nur als glücklich bezeichnen kann. Wir sind ja auch keine Schönwetter-Demokratie. Und erpressbar sind wir schon gar nicht.

Viele islamistische Terroristen agieren offenkundig von Deutschland aus. Ist das nicht erschreckend?
schäuble: Selbstverständlich. Und es muss uns zumindest veranlassen, außergewöhnlich wachsam und aufmerksam zu sein. Aus den Anschlägen vom 11. September 2001 hat bereits die Vorgängerregierung Konsequenzen gezogen. Und dies setze ich fort, wenn Sie beispielsweise an die Anti-Terror-Datei oder das Internetzentrum zur Terrorabwehr denken.

Kann man überhaupt potenzielle Ziele wie jüdische und israelische Einrichtungen noch mehr schützen, als es bisher schon der Fall ist?
schäuble: Diese Frage kann man nur lageabhängig beantworten . Wir müssen aber alles tun, um möglichst schon im Vorfeld Anschläge zu verhindern.

Vom islamistischen zum rechtsextremistischen Terrorismus: Vor kurzem gab es in Berlin einen Anschlag auf einen jüdischen Kindergarten. Ist das nicht eine konkrete Bedrohung?
schäuble: Wir haben einen Bodensatz an rechtsradikalen, antisemitischen und ausländerfeindlichen Strukturen in unserem Land. Der fällt vielleicht geringer aus als in manch anderen europäischen Ländern. Aber das ist wirklich kein Trost oder eine Beruhigung. Wir haben ja mehr Grund als andere, die Perversität solcher Denkstrukturen nicht zu vergessen. Bund, Länder und Sicherheitsorgane tun alles, um jüdische Einrichtungen zu schützen. Im Übrigen wird sehr intensiv daran gearbeitet, wie wir präventiv im Sinn von Aufklärung solchen Einstellungen und Gedanken entgegenwirken können. Das Menschenmögliche geschieht. Und ich bin generell auch eher zuversichtlich, dass wir schlim- mere Entwicklungen verhindern können.

Die Eltern der Mädchen und Jungen des Kindergartens sind nicht so zuversichtlich. Sie sind gelinde gesagt verunsichert, sehen in dem Anschlag eine neue Qualität der Bedrohung.
schäuble: Dass sich die Väter und Mütter Sorgen machen, kann ich voll und ganz nachvollziehen. Deshalb haben viele, auch ich, spontan mit Besuchen und der Teilnahme an einem Gottesdienst ihre Solidarität bekundet. Damit machen wir deutlich, dass das keine Kleinigkeit ist. Wir zeigen Flagge und versuchen, den jüdischen Eltern zu vermitteln, dass sie nicht allein sind.

Reichen solche Solidaritätsadressen für eine Zivilgesellschaft aus, um auf Missstände aufmerksam zu machen?
schäuble: Sicherlich, es gab einige, die gesagt haben: Die Zivilgesellschaft hätte etwas schneller ihr Mitgefühl zeigen können. Ich glaube, der Gottesdienst hat da schon etwas bewirkt. Sollte es noch einmal zu einem solchen Vorfall kommen, werden viele wissen, dass man den Betroffenen schnell zeigen muss, dass sie nicht allein sind. Insofern lernt auch eine Zivilgesellschaft.

Leicht scheint ihr das Lernen nicht zu fallen. Den Gottesdienst haben Juden organisiert. Zur bisher einzigen Spendenaktion hat die Chefin der Amadeu-Antonio-Stiftung, eine Jüdin, aufgerufen. Muss sich die jüdische Gemeinschaft nicht allein gelassen fühlen?
schäuble: Ich bin als Bundesinnenminister nicht der Zensor der Zivilgesellschaft. Gesellschaften brauchen auch Anstöße, um sich zu bewegen. Die jüdische Gemeinschaft kann auch auf andere zugehen. Und wir müssen der jüdischen Gemeinschaft helfen, mehr Gehör zu finden. Man darf auch nicht vergessen, dass die Wahrnehmung der Gesellschaft sehr selektiv ist.

Es sind nicht nur Schmierereien, die Anlass zur Sorge geben. Im vergangenen Jahr gab es bundesweit wohl um die 18.000 rechtsextremistische Straftaten, davon waren gut 1.000 mit Gewalt verbunden. Klingt bedrohlich, oder?
schäuble: Wir haben leider eine Entwicklung dahingehend, dass Gewalttaten generell zunehmen. Das gilt auch für Übergriffe mit ausländerfeindlichem und antisemitischem Hintergrund. Aber damit finden wir uns nicht ab. Deshalb gibt es ja sowohl polizeiliche Maßnahmen als auch verschiedene Programme, die aufklären und damit vorbeugen sollen. Der Ungeist darf in Deutschland keine Zukunft haben.

Stichwort jüdische Gemeinden. In Deutschland gibt es neben der Einheitsgemeinde inzwischen eine große Vielfalt der Strömungen: Chabad, Lauder, die Union progressiver Juden. Wie wirkt das auf Sie?
schäuble: Für mich ist das ein Beweis dafür, dass jüdisches Leben hierzulande wieder wächst. Das ist ein Geschenk, mit dem wir so nicht rechnen konnten. Dieses zarte Pflänzchen muss gehegt und gepflegt werden. Aber man sollte es einfach wachsen lassen, wie bei einem englischen Landschaftsgarten.

Die Bundesregierung fördert jüdisches Leben auch finanziell. Es gibt seit 2003 einen Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Drei Millionen Euro werden jährlich zur Verfügung gestellt, vor allem, um die Integration der russischsprachigen Juden voranzutreiben. Wird es in absehbarer Zeit dafür mehr Geld geben?
schäuble: Mir ist wichtig zu betonen, dass es einhelliger Konsens zwischen den demokratischen Parteien ist, jüdisches Leben in Deutschland zu fördern. Haushaltsmittel sind immer knapp. Aber jeder weiß ja, dass die Zahl der Zuwanderer gestiegen ist. Ich habe in Gesprächen mit Vertretern des Zentralrats schon gesagt, dass wir uns für eine Mittelerhöhung einsetzen werden. Ich bin zuversichtlich, dass es dafür in der Bundesregierung und im Bundestag eine breite Zustimmung geben wird.
Immer wieder ist davon die Rede, die Integration der russischsprachigen Zuwanderer in die jüdischen Gemeinden könnte ein Vorbild für die Integration der Muslime sein. Teilen Sie diese Auffassung?
schäuble: Die Unterschiede sind sehr groß. Bei den in Deutschland lebenden Muslimen geht es ja weniger darum, die neuen Zuwanderer zu integrieren, sondern vielmehr diejenigen, die oft schon seit Jahrzehnten hier leben. Aber es ist schon vorbildlich, wie sich die jüdischen Gemeinden um »ihre« Zuwanderer, ihre Schwestern und Brüder kümmern. Das könnte man schon sowohl Muslimen als auch Katholiken, Protestanten und Menschen ohne Religion als Beispiel empfehlen.

Das Gespräch führten Christian Böhme und Detlef David Kauschke.

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