von Rabbiner Moshe David Tendler
und Dr. Fred Rosner
Ein unumstößliches Gesetz im Judentum lautet, dass das menschliche Leben von unendlichem Wert ist. Die Bewahrung des menschlichen Lebens hat Vorrang vor allen biblischen Geboten und rabbinischen Vorschriften – Ausnahme bilden Götzendienst, Mord und Inzest. Um Leben zu erhalten, werden alle rituellen Gesetze, jene drei ausgenommen, außer Kraft gesetzt, denn die Rettung eines Menschenlebens geht unter allen Umständen vor.
Wie wendet ein praktizierender Zahnarzt dieses Grundprinzip an, wenn er am Schabbat mit einem Notfall oder einem potenziellen Notfall konfrontiert wird? Was begründet einen zahnärztlichen Notfall, der vom Zahnarzt fordert, alle Schabbatgesetze außer Kraft zu setzen und seinen Patienten zu behandeln? Unter wel-
chen Bedingungen darf der Zahnarzt seine Praxis am Schabbat öffnen, das Licht anschalten, die Medikation – Zahnzement, Füllung und so weiter – vorbereiten und verabreichen, den Bohrer benutzen, einen Abszess im Mund aufschneiden und andere therapeutische Verfahren ausführen, um seinem leidenden Patienten zu helfen?
In einer der berühmtesten halachischen Kontroversen zum Thema medizinische Behandlung am Schabbat ging es um die Frage, ob eine tatsächliche oder mögliche Gefahr für das Leben (Pikuach Nefesch) die den Schabbat betreffenden biblischen Gesetze und rabbinischen Verfügungen und Regeln außer Kraft setzt (hutra); oder ob eine solche Lebensgefahr sie nur vorübergehend aussetzt (dechuya).
Aus den Kodizes des jüdischen Gesetzes, einschließlich des Schulchan Aruch und der Mischna Tora, ist klar ersichtlich, dass ein Arzt oder Zahnarzt alle für die Behandlung und Pflege seines Patienten erforderlichen Tätigkeiten ausführen muss (kol tzorchei choleh) und sich nicht auf diejenigen Tätigkeiten beschränken soll, die die unmittelbare Gefahr für das Leben (Pikuach Nefesch) beseitigen. Der praktizierende Arzt oder Zahnarzt muss alles tun, was er auch an einem gewöhnlichen Wochentag für seinen Patienten tun würde. Daher ist diese Hauptunterscheidung von hutra und dechuya aus praktischer Sicht irrelevant, sobald der Zustand des Patienten als Pikuach Nefesch eingestuft wurde.
Ein zweiter theoretischer Unterschied zwischen hutra und dechuya ist das Hinzuziehen eines nichtjüdischen Zahnarztes, der genauso kompetent ist. Wenn für Pikuach Nefesch der Schabbat hutra ist, besteht keine Notwendigkeit, den Patienten zu einem nichtjüdischen Zahnarzt zu schicken, und der jüdische Zahnarzt kann den Patienten am Schabbat selbst behandeln, als wäre der Schabbat nicht existent. Wenn der Schabbat aber dechuya ist und wegen Pikuach Nefesch nur vorübergehend ausgesetzt wird, besteht keine Notwendigkeit, dass ein jüdischer Zahnarzt die Schabbatgesetze übertreten muss, und ein nichtjüdischer Zahnarzt darf den Patienten behandeln. Im Gegensatz zu dieser Beweisführung legten unsere Weisen jedoch fest, dass auch wenn für Pikuach-Nefesch-Situationen der Schabbat dechuya ist, kein Nichtjude, sondern der kompe-
petenteste jüdische Arzt oder Zahnarzt den Patienten behandeln soll.
Eine echte Unterscheidung zwischen hutra und dechuya ließe sich vielleicht für den Fall treffen, dass eine Tätigkeit am Schabbat auf eine ungewöhnliche Art und Weise (Schinui) ausgeführt wird, wodurch der Verstoß von einer biblischen zu einer rabbinischen Gesetzesübertretung wird. Sind die Schabbatgesetze für Pikuach Nefesch außer Kraft, darf der Zahnarzt den Patienten auf die gleiche Art und Weise wie an einem Werktag behandeln. Wird der Schabbat hingegen nur vorübergehend ausgesetzt, scheint es wünschenswert, bei allen Behandlungsschritten Schinui anzuwenden, um den Verstoß gegen den Schabbat von einer biblischen zu einer rabbinischen Übertretung abzumildern.
Was wäre für einen Zahnarzt Schinui? Wenn ein rechtshändiger Zahnarzt eine Wurzelbehandlung mit der linken Hand durchführt, ist das vielleicht Schinui, aber höchst unpraktisch. Die Definition von Schinui fordert, dass die Tätigkeit auf eine weniger fachkundige Art und Weise als im Normalfall ausgeführt wird, sodass entweder das Ergebnis weniger gut ausfällt oder die Arbeit erschwert wird. Rabbiner Abraham Borenstein, bekannt als Avnei Nezer, legt in der Einleitung seines Werks »Egley Tal«, eigens fest, dass eine Schinui dann vorliegt, wenn das Ergebnis einer Tätigkeit weniger erfolgreich ist oder wenn die Tätigkeit auf besonders mühsame Weise ausgeführt wird. Trifft keins von beidem zu, liegt keine Schinui vor. Das Licht mit dem Ellbogen oder den Bohrer mit dem Knie anzuschalten ist laut Rabbiner Moshe Feinstein keine Schinui, da die Schinui des Benutzens von Ellbogen oder Knie eine Handlung (das Licht oder den Bohrer anschalten) ist, die keine Wirkung auf den elektrischen Kontakt hat, der die verbotene Tätigkeit eigentlich auslöst. Deshalb ist es für einen Zahnarzt im Normalfall nicht machbar, eine Schinui anzuwenden, die am Schabbat für die unmittelbare Behandlung eines Patienten mit Pikuach Nefesch halachisch gültig wäre.
Praktisch gesehen gibt es also für den Zahnarzt keine Unterscheidung zwischen hutra und dechuya. Wenn eine Situation einmal als Pikuach Nefesch eingestuft ist, ist der jüdische Zahnarzt verpflichtet, auch am Schabbat alles Nötige für seinen Patienten zu tun; und das sollte seine einzige Sorge sein.
Die Regel in den klassischen jüdischen Gesetzeskodizes lautet, dass man »wegen einer inneren Wunde (makah shel challal), von der Lippe oder den Zähnen einwärts, und die Zähne selbst sind darin eingeschlossen, den Schabbat entweihen« muss. Daher werden alle Leiden wie Zahnabszess, geschwollener Kiefer, Gaumenentzündungen etc. mit unter die Kategorie »innere Wunde« gefasst. In solchen Fällen müssen die Schabbatvorschriften zu Gunsten der wirksamsten und schnellsten zahnärztlichen Behandlung außer Kraft gesetzt werden. Kieferchirurgie, für die eine postoperative Behandlung nötig ist, ist zweifellos eine Gefahr-fürs-Leben-Situation (Pikuach Nefesch), für die der Schabbat entweiht werden muss. Leidet der Patient hingegen nur an einem Zahnproblem, das ihm geringfügiges Unbehagen, aber keine großen Schmerzen bereitet, darf kein Schabbatgesetz übertreten werden. Wenn die Gefahr des Funktionsverlusts (chesron eyver) besteht, dürfen rabbinische, nicht aber biblische Verbote übertreten werden. Handelt es sich um moderate Schmerzen, ohne wirkliche Gefahr, wird nur das Verbot, einen Nichtjuden mit der Sache zu beauftragen (amira leakum), außer Kraft gesetzt. In Fällen von unerträglichen Schmerzen finden die gleichen Vorschriften Anwendung, die auch für chesron eyver gelten.
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