von Katrin Richter
und Ingo Way
Über den beige-schwarzen Torso weiß man nicht viel. Nur, dass er sehr klein ist, keinen Kopf und eine angeborene Hüftverrenkung hat. Eine Frau soll es gewesen sein. Etwa 40 bis 50 Jahre alt. Todesursache unbekannt. Aus dem Wasser habe man die Leiche gefischt. Damals, vor über 90 Jahren. Seitdem lag die Unbekannte im Archiv der gerichtsmedizinischen Abteilung der Berliner Charité.
Wenn es stimmt, was Michael Tsokos, der Direktor des Instituts, und der Historiker Jörn Schütrumpf vermuten, dann sind es die sterblichen Überreste von Rosa Luxemburg, der 1919 ermordeten Sozialistenführerin. »Es ist ein heikles Thema, aber der Sache wegen muss man da dran bleiben«, sagte Tsokos der Jüdischen Allgemeinen. Nach einigem Zögern hatte sich der Rechtsmediziner dazu entschlossen, jetzt mit der Vermutung an die Öffentlichkeit zu gehen. »Ich brauche Vergleichswerte, um den Verdacht zu bestätigen oder zu widerlegen«, sagte Tsokos. Seitdem haben sich unzählige tatsächliche oder vermeintliche Verwandte gemeldet. Eine Spur führt nach Warschau. Dort soll eine Nichte Rosa Luxemburgs leben. Die aber sei dement, und die Frage stellt sich, ob es ethisch vertretbar ist, einer kranken Frau einen genetischen Fingerabdruck abzunehmen, der für einen DNA-Vergleichstest nötig wäre.
Für die Partei Die Linke ist klar: »Wir verlangen eine vollständige Aufklärung.« In einer Presseerklärung betonte die Parteispitze, bestehend aus Lothar Bisky, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, dass die Bevölkerung einen Anspruch darauf habe. Schließlich sei Rosa Luxemburg, wie auch Karl Liebknecht, eine herausragende Persönlichkeit der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung gewesen.
Sollte sich herausstellen, dass Rosa Luxemburg in Wahrheit nie bestattet worden ist, dann müsste sie endlich beerdigt werden. Aber wie? Luxemburg war Jüdin, aber auch bekennende Atheistin. Rabbinerin Gesa Ederberg sagte der Jüdischen Allgemeinen, dass die Bestattung theoretisch nach jüdischem Ritus geschehen könnte – hätte es Luxemburg denn so gewollt. »Wichtig wäre dann, dass das Begräbnis so schnell und ehrenvoll wie möglich geschieht.« Auch Historiker Jörn Schü- trumpf findet, dass die Leiche »schon aus Pietätsgründen« unter die Erde muss. Egal, ob es sich nun um Luxemburg handelt oder um eine unbekannte Frau. Denn ob es sich bei dem Fund wirklich um die Sozialistin handelt, kann zuverlässig nur eine DNA-Analyse klären, betont Schütrumpf. Das Alter der Leiche ist zumindest ein Indiz. Das Leibniz-Labor für Altersbestimmung in Kiel hat mittels der Radiokarbonmethode herausgefunden, dass der Torso im Keller der Charité etwa 90 Jahre alt ist.
Wer aber wurde am 13. Juni 1919 in dem Grab von Rosa Luxemburg beerdigt? Während der Frankfurter Autor Klaus Gietinger davon überzeugt ist, dass Luxemburgs Leiche damals eindeutig identifiziert und bestattet worden ist, betont Schütrumpf: »Wer die Frau ist, die tatsächlich beerdigt wurde, ist unbekannt.« Zudem sei die Gedenkstätte in Friedrichsfelde nie das Luxemburg-Grab gewesen: »Das eigentliche Grab war woanders und wurde in den 30er-Jahren von den Nazis geschändet.« Seither sind die im Grab Luxemburgs und Liebknechts bestatteten Leichen verschwunden.
Neue historische Erkenntnisse bietet der Leichenfund jedoch nicht, so Schütrumpf. Dem heutigen Wissensstand über die Vorgänge während des »Spartakusaufstands« im Januar 1919 in Berlin, der mit der Ermordung Liebknechts und Luxemburgs endete, füge er nichts Neues hinzu. Doch über die genauen Details herrscht unter Historikern keineswegs Einigkeit. Für Schütrumpf besteht kein Zweifel, dass die beiden Sozialisten im Auftrag von Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) ermordet wurden. Und Noske hätte kaum ohne Billigung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert handeln können. Doch der einzige Beleg für eine Verstrickung der SPD-Spitze ist ein Interview, das der Luxemburg-Mörder Waldemar Pabst 1962 dem Spiegel gab. Darin behauptet er, direkt von Noske beauftragt worden zu sein.
Doch schriftliche Belege gibt es nicht. Der Historiker Sven Felix Kellerhoff weist in der Tageszeitung Die Welt darauf hin, dass die Verantwortung Eberts und Noskes für die Morde nicht beweisbar sei – und dennoch ein nicht zu rechtfertigendes politisches Verbrechen vorliege. Doch für eine nachträgliche Heldenverehrung bestehe kein Grund, so Kellerhoff. Denn Liebknecht und Luxemburg hätten die junge Republik stürzen und eine »Diktatur des Proletariats« errichten wollen. Opfer eines politischen Mordes zu werden, bedeutet eben nicht, historisch im Recht zu sein.