von Avrohom Yitzchok Radbil
Für viele »moderne« Menschen erscheinen die Schabbatgesetze sehr altmodisch und unpraktisch. Heutzutage – in einer indivi-
dualisierten Gesellschaft – fragen sich viele: Wenn der Schabbat der Ruhetag sein soll, warum kann ich nicht selbst bestimmen, was für mich Ruhe bedeutet – und was Arbeit ist. Denn beispielsweise steht in der Tora, man dürfe am Schabbat kein Feuer machen. Na gut. Doch die Arbeit von damals entspricht doch nicht mehr den Tä-
tigkeiten von heute. In biblischen Zeiten hat es sehr viel Zeit und Anstrengung be-
durft, ein Feuer zu entzünden. Doch heute ist eine leichte Fingerbewegung dafür vollkommen ausreichend. Ein Knopfdruck, und der Funke springt über, das Licht brennt, der Backofen ist an. Wieso sollte dies in die Kategorie der verbotenen Ar-
beiten fallen?
Auch für religiöse Menschen stellt der Schabbat in philosophischem Sinne eine gewisse Schwierigkeit dar. Denn im Ge-
gensatz zu den anderen Feiertagen, die nur einmal im Jahr vorkommen, wird der Schabbat jede Woche gefeiert. Warum ist das notwendig? Mehr als das: Jeder an-
dere Feiertag wird in der Tora als eine eigenständige Einheit erwähnt. Doch jedes Mal, wenn in der Tora vom Schabbat die Rede ist, steht dort, dass man sechs Tage arbeiten und am siebten ruhen soll. Gibt es keinen Schabbat, ohne dass man davor sechs Tage gearbeitet hat? Was ist, wenn man stattdessen auf dem Sofa lag und nichts gemacht hat? Fällt der Schabbat dann aus? Selbstverständlich nicht. Denn der Schabbat ist von der Zeit abhängig, nicht von uns. Bleibt die Frage, warum dann die sechs Werktage überhaupt er-
wähnt werden müssen.
Vielleicht lässt sich das mit einer Parabel eines bedeutenden sefardischen Rabbiners, Ben Isch Chaj, aus dessen Buch Mo-
schel veNimschal beantworten. Darin geht es um einen Prinzen, der in ein benachbartes Königreich zu einem großen Fest eingeladen wurde. Nach einer langen Reise gelangte er zu einem wunderschönen Pa-
last. Er begab sich in den großen Saal, in dem die Feier stattfinden sollte. Als er eintrat, sah er, dass alles schon für den Beginn der Feier bereit war: das Orchester auf der Bühne, die Musiker hielten die Instrumente in den Händen, die Tänzer standen auf ihren Plätzen, die Tische waren gedeckt, die Getränke warteten auf die durstigen Gäste, selbst der König saß schon auf seinem Platz. Alle waren bereit, doch die Feier selbst fing nicht an. Alle hatten auf irgendetwas gewartet. Nach einer kleinen Weile gingen die Türen auf, und einer der Diener rief ganz laut: »Sie kommen, sie kommen!” Plötzlich brachten vier Menschen eine Leiche rein, und es wurde totenstill. Keiner bewegte sich oder sagte auch nur ein Wort. Alle starrten nur auf die Leiche. Nach einigen Minuten wurde dieser leblose Körper hinausgebracht, und sofort ging die Feier los. Die Musikanten begannen zu spielen, die Tänzer zu tanzen, die Gäste mit dem König zu feiern. Der verdutzte Prinz begab sich schnellstens zum König, um ihn nach dem Sinn dieser Prozedur zu fragen, und bekam eine erstaunliche Antwort. »Es ist ganz einfach”, sagte der König. »Wenn wir die Leiche sehen, wird es uns allen bewusst, dass wir sterblich sind. Uns wird deutlich, dass manche von uns vielleicht schon sehr bald, genau wie der Verstorbene, gehen müssen. Deshalb müssen wir das Leben in voller Blüte genießen. Das hilft uns, besser zu feiern.«
Ben Isch Chaj sagt, dass jeder Mensch einen Punkt erreicht, an dem ihm bewusst wird, dass er sterblich ist. Diese Erkenntnis kann ihn in zwei Richtungen führen: Entweder er entscheidet sich, noch mehr zu genießen, um all den Spaß, den das Le-
ben zu bieten hat, auszukosten. Oder er sieht ein, dass es noch eine andere Welt gibt und er beginnt, alles dafür zu tun, sich einen besseren Platz in der kommenden Welt zu verdienen.
Unsere Weisen vergleichen den Schabbat mit der kommenden Welt. Denn am Schabbat hat man nur das zur Verfügung, was man sich während der sechs Tage er-
arbeitet hat. Man isst nur das, was man während der Woche gekauft und gekocht hat, da man am Schabbat weder das eine noch das andere tun darf. Sogar wenn man vergessen hat, in einem Raum das Licht anzumachen, wird dieser Raum während des ganzen Schabbats dunkel bleiben müssen. Am Schabbat darf nichts Neues erschaffen werden. Genau so ist es auch in der kommenden Welt. Man kann dort nur das genießen, was man sich hier, in dieser Welt während der schweren Werktage er-
arbeitet hat. Verändern lässt sich dort nichts mehr.
Es wird eine Geschichte über den Gaon aus Wilna erzählt, der in den letzten Tagen vor seinem Tod erbittert weinte. Seine Schüler fragten sich, was wohl der Grund dafür wäre. Denn es bestand kein Zweifel, dass dieser Gerechte einen Platz in der kommenden Welt sicher hatte. Vielleicht müssten sich andere Sorgen machen, aber nicht er. Daraufhin zeigte er nur auf seine Tzitzit, die Schaufäden, und sagte: »Hier in dieser Welt ist es mir möglich, auf Schritt und Tritt ohne jegliche Anstrengung ein so großes Gebot der Tora zu er-
füllen wie dieses und mich damit spirituell zu steigern. Dort werde ich diese Möglichkeit nicht mehr haben, dort bleibe ich für immer auf derselben Stufe.«
Genau das ist einer der Gründe dafür, warum der Schabbat in der Tora immer im Zusammenhang mit den sechs Werktagen steht und warum die Arbeit am Schabbat verboten ist. Denn dies soll uns immer daran erinnern, dass es die kommende Welt gibt, und dass wir nur in dieser Welt die Möglichkeit haben, uns einen guten Platz dort zu verdienen.
Da diese Erkenntnis von besonderer Wichtigkeit ist, war es eben auch nicht genug, uns dies nur einmal im Jahr vor Augen zu führen. Deshalb begehen wir den Schabbat – anders als die anderen Feiertage – jede Woche neu.
Der Autor ist Rabbinatsstudent an der Jeschiwa »Beis Zion« in Berlin. www.yeshiva.de