von Aglaia Dane
Die meisten Ungarn denken an Gemüse, wenn sie den Namen der Kleinstadt Makó hören. Wegen des lehmhaltigen Bodens und der vielen Sonnentage in der Gegend sollen hier die besten Zwiebeln des ganzen Landes wachsen. Früher war die Stadt an der rumänischen Grenze als Klein-Jerusalem bekannt: Bis 1944 gab es hier eine der größten jüdisch-orthodoxen Gemeinden Europas.
Die Synagoge von Makó ist frisch renoviert, daneben ist ein modernes Gästehaus entstanden, doch beides steht fast das ganze Jahr leer. Ein älterer freundlicher Mann kümmert sich um die Gebäude. Er ist Christ. Bei nur noch 15 Juden im Ort fand sich niemand anderes. Stolz führt er Besucher durch das Gotteshaus und erzählt von dem berühmten Wunderrabbiner Mózes Vorhand, der bis zu seinem Tod 1944 die Gemeinde leitete. Auf ihn gründet sich der Mythos des Ortes, der jedes Jahr jüdische Besucher aus aller Welt in die Stadt zieht.
Das jüdische Leben von Makó ist seine Vergangenheit. Darauf machen seit diesem Sommer sogenannte Stolpersteine aufmerksam, die der Kölner Künstler Gunter Demnig hier verlegt hat. Zum ersten Mal ist das Projekt damit nach Osteuropa gekommen. Einer dieser Steine liegt im Gehweg vor einem gelben Wohnhaus nur wenige Meter von der Synagoge entfernt. Er erinnert an den bekannten Zwiebelhändler Vilmos Montág, der in dem Haus lebte, bis er interniert wurde. Eine kleine Ausstellung in einem Nebenraum der Synagoge erzählt mehr über Vilmos Montág und die anderen Makóer Holocaust-Opfer. Organisiert hat sie der Historiker und Grundschullehrer Zsolt Urbancsok. Der 40-Jährige ist Christ, seit Jahren erforscht er in seiner Freizeit die Geschichte der Juden von Makó. »Als Kind erzählte mir mal jemand, wie groß die Bedeutung der Juden hier einst war.« In seiner Welt habe er dieses Makó aber nicht finden können, sagt Urbancsok. Das beunruhigte ihn, und er durchwühlte Archive, sammelte Daten und veröffentlichte sie schließlich in einem Buch.
»Ungarn fehlt es an Erinnerungskultur«, meint Urbancsok. Im Kommunismus wurde der Holocaust totgeschwiegen, und auch nach dem Systemwechsel hat sich das kaum geändert. Das zeige sich auch an den Schulen. »Der Lehrplan sieht für das Thema Holocaust gerade mal eine Stunde vor«, sagt der Grundschullehrer resigniert. 45 Minuten für den Mord an einer halben Million Ungarn. Dem Thema mehr Zeit zu widmen, obliegt dem einzelnen Lehrer. Ur- bancsok macht es, andere nicht.
Dabei ist die Geschichte der Deportation in Ungarn auf erschütternde Weise einzigartig. Binnen weniger Monate und so schnell wie in keinem anderen Land Europas wurden ab März 1944 die ungarischen Juden verschleppt und umgebracht. Außerhalb der großen Städte ist das jüdische Leben fast vollständig ausgelöscht worden.
Eine der wenigen noch funktionierenden jüdischen Gemeinden in Ungarn auf dem Land liegt in Kiskunhalas, rund 130 Kilometer südlich von Budapest. Auch hier liegen seit dem Sommer Stolpersteine, unter anderem vor der großen, weiß getünchten Synagoge. Für den Gemeindevorsitzenden Gábor Raáb ergänzen sie seine Bemü- hungen der vergangenen Jahre. »Wir als jüdische Gemeinde versuchen etwas gegen Antisemitismus zu tun, indem wir uns öffnen. Viele Leute sind neugierig, und wir laden sie ein«, zu Tagen der offenen Tür und zu einem jüdischen Kulturfest. Kleine gelbe Plakate in der Stadt weisen darauf hin, dass es in zwei Wochen wieder soweit ist. Im vergangenen Jahr seien 400 Leute gekommen, 90 Prozent davon waren Nichtjuden.
»Natürlich gibt es auch bei uns Antisemitismus«, sagt Raáb. Doch der zeige sich meist verdeckt, als nicht hinterfragendes Schimpfen auf die Juden. Raáb erinnert sich an eine Demonstration vor ein paar Wochen. Es ging um ein großes Unternehmen, das angekündigt hatte, Kiskunhalas zu verlassen. Da ertönten Rufe: Schuld seien die Juden.
Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden in Ungarn (Mazsihisz) Péter Feldmajer sieht besorgt aus. Er sitzt hinter einem schweren Holzschreibtisch, in seiner Anwaltskanzlei im südungarischen Kecskemét. Gerade hat er eine Pressemitteilung abgeschickt, in der er vor der möglichen Gefahr der »ungarischen Garde« warnt, einer bewaffneten Gruppe Rechtsextremer, die sich vor wenigen Wochen auf dem Burgplatz in Budapest vereidigt hat (vgl. Jüdische Allgemeine vom 6. September). »Die judenfeindlichen Stimmen sind seit der Regierungskrise und den Demonstrationen vor einem Jahr lauter geworden«, sagt Feldmajer. Doch schnell fügt er hinzu, man solle das Bild von Ungarn nicht zu dunkel malen. »Wahrscheinlich ist es schwierig, in Kiskunhalas einen Menschen zu finden, der nicht stolz auf die Synagoge ist«, meint er. Auf dem Land sei es anders als in Budapest.
Tatsächlich sehen sich die Juden in der Hauptstadt weitaus häufiger mit antisemitischen Parolen konfrontiert. Das führte so weit, dass Feldmajer der jüdischen Bevölkerung im März riet, das Land zu verlassen. In Budapest leben mit Abstand die meisten Juden Ungarns, sie bilden eine Projektionsfläche für den Hass.
Das bekam auch Ágnes Berger, die Organisatorin des Stolperstein-Projekts, zu spüren, die bei der Verlegung der Steine nur in Budapest negative Erfahrungen machte. Der Bezirksbürgermeister sagte kurzfristig ab, eine Frau schrie sie an, andere Passanten kritisierten, warum man der Juden gedenken müsse, schließlich seien die doch auch Kommunisten gewesen. Die Steine polarisierten, genau das hatte Berger nicht gewollt. Denn die Kluft, die die ungarische Gesellschaft spaltet, spürt sie auch in sich. Ein Teil der Familie hat einen jüdischen Hintergrund und unter dem Holocaust gelitten, die anderen sind Katholiken, die im Sozialismus enteignet wurden.
Dennoch ist Ágnes Berger optimistisch. »In den meisten Orten waren die öffentlichen Stellen kooperativ und hilfsbereit«, sagt sie, »auch die Medien zeigten großes Interesse.« Mittlerweile bekommt sie aus dem ganzen Land täglich neue Anfragen.
Für Ágnes Berger sind die Stolpersteine ein Angebot an die ungarische Bevölkerung, sich intensiver mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Wie groß die Bereitschaft ist, sie anzunehmen, ist fraglich. Denn den Stolpersteinen steht eine lauter werdende Gruppe von Steinewerfern gegenüber. In Makó ist dies deutlich zu sehen: Auf der Empore der Synagoge liegen auf dem Boden verteilt Ziegel- steine. Sie wurden vor einem Jahr, als in Budapest Zehntausende gegen die Regierung demonstrierten und Straßenschlachten tobten, von Rechtradikalen durch die Fenster geworfen. Der ältere Mann, der sich um die Synagoge kümmert, hat sie liegen lassen – zur Erinnerung.