Viktor R. ist aus Russland nach Deutschland gekommen. In diesen Tagen wird er 85 Jahre alt. Er hat keine Angehörigen mehr. Damit gehört er zur Mehrheit der Mitglieder in den jüdischen Gemeinden in Deutschland. Mit dem Zerfall der Sowjet-
union Anfang der 90er-Jahre ergriffen viele Juden vor allem aus Russland und der Ukraine die Möglichkeit, in die Bundesrepublik zu emigrieren, unter ihnen vor al-
lem viele ältere Menschen. Rund 95 Prozent von ihnen waren 70 Jahre und älter. Viele dieser Zuwanderer sind auf staatliche Hilfe angewiesen. Allein in Württemberg seien rund 95 bis 98 Prozent der Mitglieder Grundsicherungsempfänger, berichtet Eve Warscher, die für Bestattungen in der Israelitischen Relgionsgemeinschaft Württemberg verantwortlich ist. Die meisten der Mitglieder haben keine Verwandten, die für sie im Todesfall die Bestattungskos-
ten übernehmen.
Sozialleistung Wie Viktor R. sind viele von ihnen Überlebende von Konzentrationslagern und meist die Einzigen aus ihrer Familie. Sie stehen allein. Sterben sie, müssen entweder die Gemeinden oder an-
dere Institutionen die entstehenden Kos-
ten begleichen. »Für die Beerdigungskos-
ten von Juden, die ihren Wohnsitz in Stuttgart haben, im Stadtgebiet sterben, keine Angehörigen haben und gleichzeitig Sozialhilfeempfänger sind, springt größtenteils die Stadt ein«, erklärt Warscher. Konkret beteiligt seien das Sozialamt, das Amt für öffentliche Ordnung und das Stiftungsamt. Rund 400 Euro gibt die Gemeinde hinzu.
Doch seit einiger Zeit hat die Stuttgarter Gemeinde eine finanzielle Grundsicherung eingeführt, die im Sterbefall eines Alleinstehenden einspringt. Sie hat einen Chewra-Kaddischa-Fonds gegründet. Aus ihm sollen diese Kosten beglichen werden. Doch bislang reicht das zur Verfügung stehende Geld aus dem Fonds noch nicht aus, um die Kosten zu decken. »Wir sind wei-
terhin auf Spenden angewiesen«, erläutert Eve Warscher.
Mizwa Der Fonds ist nach der Chewra Kaddischa, der Beerdigungsbrüderschaft, benannt, deren Aufgabe es ist, »sich mit den Toten zu befassen«. Sie wird sofort nach dem Tod benachrichtigt und sorgt für die Überführung zum Friedhof und die Wa-
schung der Toten. Für Männer und Frauen gibt es je eine eigene.
Einen Menschen in Würde zu beerdigen, ist den Gemeinden ein wichtiges Gebot, eine Mizwa. Nachdem der Tod eingetreten ist, wird der Leichnam mit einem sogenannten Linnen bedeckt und auf den Boden gelegt. Neben dem Kopf des Toten werden Kerzen entzündet. Dann wird auf dem Friedhof alles für die Beerdigung vorbereitet, das Grab ausgehoben, der Sarg bereitgestellt und das Totengewand hergerichtet.
In Gelsenkirchen passiert das beispielsweise auf dem Ostfriedhof, die Bestattung findet auf dem Südfriedhof statt. In dem »Haus der Reinigung«, dem Bet Tahara, wird der Leichnam gewaschen und den rituellen Bestimmungen nach gereinigt. Anschließend wird der oder die Tote mit weißer Wäsche angekleidet und zur Grabstätte gebracht. »Dazu gehört auch, dass man Gebete spricht. Das macht bei den Männern ein Rabbiner, wir machen das bei den Frauen selbst«, erzählt Udlya Leontieva, die dieses Amt in der Gelsenkirchener Gemeinde übernommen hat. Die Chewra Kaddischa ist eine der wich-
tigsten Institutionen in den Gemeinden.
Die jüdischen Toten werden in großer Schlichtheit beerdigt, da es nach der reli-
giösen Auffassung im Tod keine Unterschiede mehr gibt. Dabei kümmert sich die Gemeinde auch um die psychologische Betreuung der Angehörigen.
Ist jedoch der Verstorbene alleinstehend, wird zunächst das Amt für öffentliche Ordnung informiert. Die Beamten recherchieren dann im ersten Schritt, ob es doch irgendwo noch Familienmitglieder gibt und nehmen gegebenenfalls auch Kontakt zu den Konsulaten und Botschaften auf. »Es kommt auch hin und wieder vor, dass die Verwandten bekannt sind, aber nicht angegeben wurden«, gibt Eve Warscher aus Stuttgart zu bedenken. Diese Recherchen verursachten oft einen erheblichen bürokratischen Aufwand.
Die württembergische Landeshauptstadt übernimmt sogar die Kosten für den Grabstein in einer Höhe von 770 Euro inklusive eingravierter hebräischer Buchstaben über und unter dem Namen des Verstorbenen, einem Davidstern und dem jüdischen Sterbedatum. Die Details be-
spricht die Gemeinde mit einem Steinmetz, der für die Gemeinde arbeitet.
Demoskopie In der Regel erfolgt die Steinsetzung zwölf Monate nach der Bestattung. Eine entsprechende Vereinbarung zwischen der jüdischen Gemeinde und dem Stiftungsamt sei vor wenigen Wochen geschlossen worden, erklärt Warscher. »Wir sind sehr froh über diese Lö-
sung«, sagt sie. Denn die Zahl derjenigen, die in den kommenden Jahren sterben werden, ohne eine Rente ansparen zu können, werde noch erheblich steigen.
Die Bestattungsordnung ist in jeder Gemeinde und jeder Stadt unterschiedlich. In Hamburg beispielsweise, wo ebenfalls viele Zuwanderer leben, übernimmt das Sozialamt die Beerdigungskosten für die Sozialhilfeempfänger aus der Gemeinde, die keine Angehörigen mehr habe. Darüber hinaus wird ein Grabkissen finanziert, was ebenfalls ungefähr ein Jahr nach dem Tod auf dem Grab platziert wird, erklärt Miriam Solomon von der jüdischen Friedhofsverwaltung.
Eve Warscher rät vor allem Mitgliedern wie Viktor R. immer wieder dazu, sich frühzeitig um ihr Begräbnis selbst zu kümmern. »Leider nur mit mäßigem Erfolg«, sagt die Stuttgarterin, deren Eltern bereits in der Gemeinde in Württemberg aktiv waren. Viele ignorierten einfach, dass auch sie sich auf den Tod vorbereiten müssen. »Es wäre gut, wenn manche etwas verantwortlicher damit umgehen würden.«