Vor 80 Jahren, am 19. März 1944, besetzten die Gestapo und Adolf Eichmann Ungarn. Ihre »Aufgabe«, in Kooperation mit der Führung von Miklós Horthy, war die Vernichtung der 800.000 ungarischen Juden.
Andor Grósz, der Vorsitzende der Bund Ungarischer Jüdischen Gemeinden (MAZSIHISZ), hielt die folgende Rede bei der Eröffnung des Gedenkjahrs in Ungarn.
Die Rede im Wortlaut:
Liebe Gäste dieser Gedenkveranstaltung aus dem In- und Ausland, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Ich möchte Sie hier, in der größten Synagoge Europas, am 24. Tag des Monats Adar nach dem jüdischen Kalender willkommen heißen, um gemeinsam der Ereignisse vor 80 Jahren zu gedenken. Erinnern wir uns an den 24. Adar 5704, als mit der Besetzung Ungarns durch die Nazis das letzte, blutigste und schrecklichste Kapitel des Holocausts begann. An diesem Tag, der nach dem bürgerlichen Kalender ein Sonntag, der 19. März 1944, war, traf mit den deutschen Einheiten auch die Gestapo ein. Mit ihnen kam das etwa hundert Mann starke Eichmann-Kommando, das den Auftrag hatte, zusammen mit dem von Reichsverweser Miklós Horthy geführten Staatsapparat die mehr als achthunderttausend ungarischen Juden zu vernichten.
Wir sind zur Eröffnungsveranstaltung des 80. Jahrestages des Holocausts in Ungarn zusammengekommen, aber ich gebe zu, dass dies ein wenig ungenau ist. Der Holocaust in Ungarn begann nicht 1944 oder mit der Nazi-Besetzung. Am 19. März 1944 war mein Vater schon seit langem im Manganbergwerk Úrkút zur Zwangsarbeit verpflichtet, zusammen mit Hunderten seiner jüdischen Kollegen. Tausende weitere schufteten in der Kupfermine Bor in Serbien und anderswo unter unmenschlichen Bedingungen, während Zehntausende von noch Unglücklicheren an die Ostfront getrieben wurden und dort bereits seit drei Jahren ohne Waffen, richtige Ausrüstung und Kleidung umkamen.
All dies war eine Folge des auch von staatlicher Seite geschürten Antisemitismus, der Höhepunkt eines Prozesses, in dessen Verlauf jüdische Bürger oder solche, die nach dem Gesetz als jüdisch galten, nach und nach ihrer Rechte, ihrer Arbeitsmöglichkeiten, ihres Eigentums, ihrer Freizügigkeit oder sogar der Möglichkeit, mit ihren Familienangehörigen in Kontakt zu bleiben, beraubt wurden.
Unbeschreibliche Schrecken
Es gibt Dinge, die vergeben, geändert und sogar vergessen werden können, aber das, was uns während der Schoa widerfahren ist, kann weder vergeben noch wiedergutgemacht werden, und vor allem kann es nicht vergessen werden.
Die Schrecken des Holocausts sind unbeschreiblich. Das Massaker an einer halben Million ungarischer Juden und die verzweifelten Bemühungen Hunderttausender weiterer Menschen, auf den Trümmern ihres bisherigen Lebens einen Neuanfang zu wagen, waren mit so viel unfassbarem individuellem Leid, mit so viel Tragik verbunden, dass man es sich gar nicht vorstellen kann.
Wir könnten endlos fortfahren, die Schrecken, die Brutalität, das Elend der in den Ghettos zusammengepferchten Unglücklichen aufzuzählen, die Folterungen der Gemeindevorsteher und der Bessergestellten, die Leibesvisitationen, die Verzweiflung derjenigen, die mit einem Eimer Wasser für die Fahrt in Güterwaggons getrieben wurden, die Rampe und die Selektion bei der Ankunft, das Entsetzen der jungen Mutter, als ihr kleines Kind der Großmutter übergeben und direkt in die Gaskammer geschickt wurde.
Giere Hände
Wir, die wir damals noch nicht geboren waren, haben auch noch nach mehreren Generationen die Pflicht, an das Geschehene zu erinnern, den Schmerz all derer in Worte zu fassen, die diese Gräueltaten erlitten haben. Den Schmerz derer, in deren Arme und Seelen die Zahlen der Demütigung für immer eingraviert blieben.
Ich bitte Sie, dass wir, wenn wir der Ermordeten gedenken, mag ihr Schicksal noch so schrecklich gewesen sein, versuchen, uns an sie zu erinnern, an ihr Leben, und nicht an ihre Zerstörung, nicht an ihren Tod. Denken wir an unsere Vorfahren, Verwandten, Freunde unserer Familie, alle Mitglieder unserer Gemeinschaft, wie sie in ihrem Leben waren, liebende Eltern und Kinder, Menschen, die mit den Problemen des täglichen Lebens kämpften, die Feiertage genossen und nützliche Mitglieder ihrer Gemeinschaft waren, so wie auch die gesamte jüdische Gemeinschaft ein nützlicher Teil unserer Gesellschaft war und ihrem Heimatland so viel gab.
Bitte denken Sie an sie, wenn Sie an die Gläubigen denken, die einst Hunderte von Synagogen in Ungarn füllten, und nicht daran, dass es im ländlichen Ungarn kaum noch eine Gemeinde gibt, die ein Gebet für die Opfer sprechen könnte, und dass von den Hunderten von Synagogen nur einige wenige übrig geblieben sind, der Rest wurde umgewandelt oder ihre Steine wurden von gierigen Händen geplündert.
Meer von Hass
Denken Sie an bitte sie, wenn Sie, ohne ihn gekannt zu haben, an den Mann denken, der vor 80 Jahren hier auf genau dieser Bank saß, auf der Sie jetzt sitzen; denken Sie an sein Leben und nicht daran, dass er dreißig Meter entfernt im Garten der Synagoge in einem Massengrab begraben sein könnte.
Daran sollen wir uns erinnern, und auch in Dankbarkeit an die wenigen Retter, die selbst in diesem Meer von Hass und Gleichgültigkeit menschlich bleiben konnten und versuchten, ihren jüdischen Mitbürgern zu helfen.
Es gibt ein ernüchterndes Zitat des Holocaust-Überlebenden und Nobelpreisträgers Elie Wiesel aus Máramaros, das die Bedeutung des Gedenkens unterstreicht. Er sagte: »Wenn wir vergessen, werden die Toten ein zweites Mal getötet.« Wir dürfen nicht zulassen, dass der Holocaust oder andere abscheuliche Taten, die an unserem Volk begangen wurden, unserem Bewusstsein entgehen.
Brutales Abschlachten
Das Gedenken betrifft die Vergangenheit, aber es spricht auch die Gegenwart an und gestaltet die Zukunft. Wir müssen alles dafür tun, dass jede neue Generation dem Erbe der Vergangenheit klar gegenübersteht und seine Bedeutung für die Gegenwart erkennt. Dies ist besonders wichtig, weil die gesellschaftliche Aufarbeitung der gesamten Tragödie der Shoah in Ungarn, wie auch in den meisten betroffenen Ländern, noch aussteht. Bis eines Tages die Mehrheit der Gesellschaft nicht nur wissen, sondern auch spüren wird, dass der Holocaust nicht nur eine Tragödie der Juden, sondern der ganzen Nation ist, bleibt es unsere Aufgabe, an das Geschehene zu erinnern, der Ermordeten zu gedenken und, wenn nötig, die Täter zu benennen.
Dies ist besonders wichtig in einer Zeit, in der die gesamte Nachkriegsweltordnung zusammenzubrechen scheint, in der Kriege wüten, die noch vor kurzem unvorstellbar waren, und in der der Antisemitismus in vielen Teilen der Welt ein Ausmaß angenommen hat, wie wir es in den letzten achtzig Jahren nicht erlebt haben. Wenn das brutale Abschlachten, die Schändung und die Geiselnahme von Zivilisten, Kibbuzniks, dem friedlichen Publikum eines Musikfestivals, einschließlich Babys, Frauen und älteren Menschen am 7. Oktober von Schuldzuweisungen an die Opfer begleitet wird, wenn selbst nach diesem flagranten Verbrechen gegen die Menschlichkeit viele das Recht des Staates Israel auf Selbstverteidigung in Frage stellen.
Nach all dieser Zeit, nach 80 Jahren, dachten wir, es sei ausreichend, immer wieder an unsere Ermordeten des Holocausts zu erinnern, immer wieder zu erzählen, was geschehen ist. Wir haben uns geirrt. Das reicht jetzt nicht mehr aus. Jetzt, wenn unsere Feinde uns mit dem Gemetzel am 7. Oktober gewarnt und bewiesen haben, dass es ihr Ziel ist, die Juden erneut zu vernichten, genügt es nicht, nur zu reden, nur zu erinnern. Wir müssen die Welt mit der Tatsache konfrontieren, dass die Ära der unmenschlichen Taten hier wieder anklopft. Wir sind erneut im Fadenkreuz! Die Terroristen ermutigen die Menschen, Israel zu zerstören, das Heimatland zu zerstören, das schließlich um den Preis von sechs Millionen Opfern zurückgewonnen wurde.
Wiedererwachtes Gespenst
Es ist ihnen gelungen, erneut eine Massenhysterie gegen die Juden zu schüren, mit einem Krieg, der mit einem Massenmord an unschuldigen Juden provoziert wurde. Und Hunderttausende von Menschen in der zivilisierten Welt machen sich das zu eigen, schwenken die Fahnen, unter denen die Terroristen nicht nur die Juden, sondern die gesamte moderne Zivilisation bedrohen.
Heute begehen wir den 80. Jahrestag des Holocausts in Ungarn, aber wir können nicht in der Vergangenheitsform über das Geschehene sprechen, solange das wiedererwachte Gespenst des Antisemitismus unter uns umgeht. Wir werden es besiegen. Wir werden nicht mit gesenktem Kopf davonlaufen.
Es ist ein Trost für uns, dass Ungarn nun vorbildlich zu Israel und seinem Volk steht, vorbildlich gegen Antisemitismus vorgeht und uns ermöglicht, unsere jüdische Identität hier in diesem Land in Frieden zu leben.
Treibende Kraft
Der britische Historiker Ian Kershaw sagte einmal: »Der Weg nach Auschwitz wurde durch Hass gebaut, aber mit Gleichgültigkeit gepflastert.« Ich möchte, dass wir nicht zulassen, dass Gleichgültigkeit auch nur eine Straße pflastert. Tun wir alles, was wir können, um Gleichgültigkeit, Hass oder Ausgrenzung zu bekämpfen, wo auch immer sie in der Welt auftreten!
Es ist wichtig, der Opfer zu gedenken, es ist wichtig, für eine Welt zu arbeiten und zu kämpfen, in der solche Gräueltaten nie wieder geschehen können. Möge das Gedenkjahr die treibende Kraft für eine aktive, stolze und starke jüdische Gemeinschaft im Gedenken an die Ermordeten sein! Und lasst das Gedenkjahr auch ein Jahr des Aufbaus sein, damit wir gestärkt in Geist, Seele und Institutionen den neuen Herausforderungen begegnen können.
Danke, dass Sie gekommen sind und an unserer Gedenkfeier teilnehmen, danke für Ihre Aufmerksamkeit.