von Wladimir Struminski
Der Jerusalemer Herzlberg ist eine Stätte von zentraler Bedeutung für den Staat Israel. Hier beginnen Jahr für Jahr die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag. Hier befindet sich der Zentrale Militärfriedhof. Hier sind die Grabstätten vieler herausragender Persönlichkeiten zu finden, darunter drei Regierungschefs: Levi Eschkol, Golda Meir und Jitzchak Rabin.
Seinen Namen aber bezieht der Berg von Theodor Herzl, dem Begründer der zionistischen Bewegung. Gemäß Herzls Testament wurde sein Leichnam im Jahre 1949 und damit kurz nach der Staatsgründung, aus Wien nach Jerusalem überführt. Wie von Herzl gewünscht, wurden später auch seine Eltern und seine Schwester neben ihm bestattet.
So hatte Israel keine Zeit verloren, Herzls letzten Willen zu respektieren: Allerdings selektiv. In seinem Testament hatte der Visionär nämlich den Wunsch geäußert, seine Kinder, Pauline, Hans und Trude ebenfalls an seiner Seite beizusetzen. Trude, Herzls jüngste Tochter, ist im Holocaust umgekommen, ihr Verbleib ist ungeklärt. Pauline und Hans waren vor 76 Jahren im französischen Bordeaux beigesetzt worden. Erst in der vergangenen Woche fanden die beiden bei einem Staatsbegräbnis ihre letzte Ruhestätte neben ihrem Vater auf dem Herzlberg.
Warum hat Israel so lange gewartet, um die »menschliche Schuld« zu begleichen, in der es nach den Worten von Ministerpräsident Ehud Olmert bei Herzl gestanden hat? Warum erkannten die Regierung und die zionistische Bewegung erst jetzt an, Herzl Unrecht getan zu haben, wie der Vorsitzende der Jewish Agency, Zeev Bielski, bekannte? Für den israelischen Historiker Ariel Feldstein vom Sapir College in Sderot, der die Geschichte von Herzls Kindern erforscht hat, ist die Antwort recht einfach: Pauline und Hans haben der zionistischen Bewegung und der israelischen Regierung nicht ins Konzept gepaßt.
Paulines und Hans’ Leben verliefen tragisch. Nach dem frühen Tode ihres Vaters im Jahre 1904 wuchsen sie zunächst unter der Obhut der zionistischen Bewegung auf. Letztendlich scheiterten sie aber an seelischer Erkrankung – möglicherweise von ihrer Mutter Julia geerbt – und am Geldmangel, hatte doch ihr Vater den größten Teil seines persönlichen Vermögens für die zionistische Sache ausgegeben. Im Sommer 1930 wurde Pauline in Bordeaux wegen Landstreicherei verhaftet und anschließend ins Krankhaus eingeliefert. Im September desselben Jahres starb sie, nicht zuletzt wegen einer Überdosis Morphium. Am Tag vor ihrem Begräbnis beging Hans Selbstmord. Daß er dennoch neben seiner Schwester auf dem jüdischen Friedhof der Stadt beigesetzt wurde, war dem Rabbiner von Bordeaux, Josephe Hacohen, zu verdanken. Bei seiner halachischen Erlaubnis zu Hans’ Beisetzung mußte sich der Rabbiner nicht nur über den Selbstmord, sondern auch über die Tatsache hinwegsetzen, daß Herzl Junior sechs Jahre zuvor zum Christentum übergetreten war.
Später sahen die Oberen des von Herzl anvisierten Judenstaates die Sache nicht so gnädig. Anders als der Rabbiner von Bordeaux mochte Israels religiöses Establishment Hans weder den Glaubensabfall noch den Suizid verzeihen. Die Gründe für die Weigerung, Pauline und Hans beizusetzen, waren aber nicht nur religiöser Natur: Aus Sicht der israelischen Staatsführung paßten Herzls Kinder nicht in das lichte Bild des zionistischen Stammvaters, so wie man generell versuchte, Herzls Familie zu verschweigen.
Daß Herzls Wunsch doch noch in Erfüllung ging, ist nicht zuletzt dem Einsatz des Historikers Feldstein zu verdanken. Im Jahre 2001 machte Feldstein die von der israelischen Öffentlichkeit längst verdrängte Mißachtung von Herzls letztem Willen in einem Zeitungsartikel publik. Den endgültigen Beschluß, sie zu überführen, faßte die Regierung aber erst fünf Jahre später. Ein weiterer Aufschub wurde durch den Libanonkrieg erzwungen.
Auf halachischer Ebene wurde der Weg der Geschwister nach Israel durch ein Urteil des sefardischen Oberrabbiners Schlomo Amar frei. Amar erkannte Hans Herzl als jüdisch an. Zudem legte Rabbiner Amar fest, daß Hans in den letzten Augenblicken vor seinem Tode den aus einer seelischen Notlage heraus begangenen Selbstmord bereut habe. Damit sei ein gewöhnliches jüdisches Begräbnis statthaft.
Das von den israelischen wie internationalen Medien weitbeachtete Ereignis gefällt aber nicht allen. Daß Hans trotz Übertritt und Selbstmord in Israel als Jude bei-
gesetzt wurde, sende eine falsche Botschaft aus, bemängelte der ultraorthodoxe Knessetabgeordnete Mosche Gafni. Damit sprach er vielen ultraorthodoxen Kritikern, die den Urzionisten Herzl ohnehin nicht sonderlich mögen, aus dem Herzen. Feldstein selbst sieht die Sache anders. In einem Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen warnte der zum Akteur gewordene Geschichtsforscher jedoch vor allzu großer Selbstzufriedenheit. »Alles in allem«, so Feldstein mit Blick auf Theodor Herzl, »haben wir einem Mann einen kleinen Dienst erwiesen, der uns einen großen Dienst erwiesen hat.«