von Lisa Borgemeister
Gibt es Chancen auf ein neues jüdisches Leben in Deutschland? Was ist jüdische Kultur? Und wie können Gemeinden die Chancen der Einwanderung nutzen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich in Wiesbaden ein hochbesetztes Diskussionsforum. Auf dem Podium: Der Historiker und Schriftsteller Arno Lustiger, die habilitierte Soziologin Lena Inowlocki und die Israelin Julia Bernstein, die an der Universität Frankfurt zum Thema »Russische Migranten in Israel und Deutschland« promoviert. Moderator war Karlheinz Schneider, Vorsitzender des Aktiven Museums Spiegelgasse in Wiesbaden.
Jüdische Kultur gibt es heute in fast jeder Stadt in Deutschland. Selbst in kleinen Dörfern, in denen keine Juden leben, entstehen Klesmergruppen. Jüdische Kultur ist präsent. Das ist nicht neu, sagte Arno Lustiger: Nach dem ersten Weltkrieg gab es eine ähnlich große Bewegung russischsprachiger Juden nach Deutschland. »In großen Städten wie Berlin sind sehr schnell kulturelle Institutionen und Unternehmen wie Verlage entstanden«, berichtete der Wissenschaftler.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verließen die meisten der rund 220.000 Juden das Land und zogen nach Israel oder in die USA. Zurück blieben etwa 20.000, also noch nicht einmal jeder Zehnte. »Das waren Härtefälle«, sagt Lustiger, »die waren zu alt oder zu krank.« Bis zum Ende der 80er-Jahre lebten kaum mehr als 30.000 Juden in der Bundesrepublik, die Gemeinschaft war stark überaltert. »Man zerbrach sich den Kopf, was aus den Gemeinden werden wird«, erinnert sich Schneider. Die Zuwanderungswelle in den 90er-Jahren sei deswegen eine große Chance gewesen.
Doch haben die Gemeinden diese Chance genutzt? Fakt ist, dass die Jüdischen Gemeinden in Deutschland bis zum Jahr 2006 auf knapp 108.000 Mitglieder angewachsen sind. Nach Schätzungen von Inowlocki gibt es aber rund 100.000 bis 130.000 russischsprachige Juden, die keiner Gemeinde angehören. Lustiger macht eine mangelnde Vorbereitung auf die Zuwanderungswelle dafür verantwortlich: »Da wurden zum Beispiel Menschen ausgeschlossen, die sich zwar als Juden fühlen, aber keine jüdische Mutter haben.« Doch nicht alle jüdischen Zuwanderer sind gläubig. Inowlocki stellt klar: Einer Gemeinde beizutreten bedeute nicht, dass man gläubig sei. Religiosität dürfe keine Bedingung für soziale Zugehörigkeit sein. Auch Bernstein pflichtete ihr bei: »Judentum ist nicht nur eine Religion mit kulturellen Beständen.« Wesentlich sei das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe.
Voraussetzung für »Chancen neuen jüdischen Lebens in Deutschland« – in diesem Punkt zeigten sich die Diskutanten einig – ist eine gelungene Integration der Neuankömmlinge. Und das ist laut Lustiger eine »riesige Aufgabe«. Denn die meis-ten Migranten betrachten sich nicht als Opfer ihrer Regime – im Gegenteil: »Viele sind stolz, dass sie in der Roten Armee gekämpft haben. Es ist wichtig, auch diese Menschen zu integrieren«, appelliert Lustiger. Bernstein bestätigte diese These. Im Rahmen ihrer sozialwissenschaftlichen Studien über Migranten hat die junge Wissenschaftlerin zahlreiche Betroffene inter- viewt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass gerade ältere Migranten die sowjetische Politik stark verinnerlicht haben. Ziel müsse es sein, vor allem die sprachliche Integration maßgeblich voranzutreiben.
Knapp 40 Zuschauer verfolgten die zweistündige Podiumsdiskussion mit großem Interesse. Das »Roundtableforum« war Bestandteil der erstmals in Wiesbaden stattfindenden Programmreihe »Dialogtage«. Veranstalter waren das Aktive Museum Spiegelgasse für deutsch-jüdische Geschichte in Wiesbaden in Kooperation mit der städtischen Volkshochschule, der Fachhochschule und dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst. Ziel der Organisatoren ist es, jüdische Künstler aus dem In- und Ausland in die hessische Landeshauptstadt zu holen.
Bei den Verhandlungen zu einem Vertrag mit der Stadt Wiesbaden vor einem knappen Jahr haben beide Partner einen Gedanken immer wieder hervorgehoben: »Nach der Zeit des sich Einrichtens ist es wichtig, dass jüdische Kultur Teil der Stadtkultur wird«, zitiert Schneider. Die »Dialogtage« zielen genau in diese Richtung, wenn auch die Jüdische Gemeinde nicht in der Liste der Veranstalter und Kooperationspartner auftaucht. Neben der Podiumsdiskussion gab es Gastauftritte der israelischen Sängerin und Liedermacherin Yael Deckelbaum und der jüdisch-beduinischen Theatergruppe von Neve Hanna. Das Chagall-Quartett machte mit einem Konzert auf vergessene und »verfemte« Musik aufmerksam.
Wer die bisherigen Veranstaltungen verpasst hat, kann sich trotzdem noch auf einen besonderen Höhepunkt freuen: Am Sonntag, 21. Oktober, eröffnet um 13 Uhr im Aktiven Museum Spiegelgasse, Spiegelgasse 11, eine Ausstellung des Künstlerehepaars Hai und Topsy Frankl. Gezeigt werden Ausschnitte ihres künstlerischen Lebenswerks und geschichtliche Hintergründe. Zur Matinee um 11 Uhr bieten die beiden Maler zusammen mit Miriam Oldenburg einen musikalischen Auftakt im Pariser Hoftheater, Spiegelgasse 9. Als Duo machten sich »Hai und Topsy« mit schwedischer und internationaler Folklore einen Namen. Bis zum 18. November können Besucher die Werke im Museum besichtigen. Geöffnet ist donnerstags und freitags von 16 bis 18 Uhr, samstags von 11 bis 13 Uhr.
www.am-spiegelgasse.de