von Carsten Hueck
Was für ein Mann, was für ein Werk! Claude Lanzmann, Kommandeur der französischen Ehrenlegion, ehemaliger Résistancekämpfer, Ehrendoktor der Universitäten Amsterdam und Jerusalem, Herausgeber der von Jean-Paul Sartre gegründeten Zeitschrift Les Temps Modernes, Journalist, Regisseur, Produzent – eigentlich müsste man sich verbeugen vor dem kräftigen, untersetzten älteren Herrn im eleganten Anzug. Eineinhalb Stunden hat er warten lassen. Nun kommt er in die Lobby des Berliner Kempinski Hotels. Er habe sich mit Freunden getroffen, erst morgens um sechs schlafen können, noch eine Massage gebraucht. Keine Entschuldigung. »Machen wir es kurz«, sagt er und bestellt sich einen Espresso.
Claude Lanzmann gilt als schwierig, kompromisslos und stur. Seine Filme gewinnen dadurch. Als Regisseur zwingt er Menschen zum Erzählen – auch wenn sie eigentlich nicht wollen. In Shoah etwa. Da schneidet ihm ein Friseur die Haare und muss währenddessen berichten, wie das war, Frauen in der Gaskammer von Treblinka die Haare zu schneiden.
Shoah ist Lanzmanns bekanntestes Werk. Fast zwölf Jahre lang hat er an jener einzigartigen, unkategorisierbaren filmischen Begegnung mit der »Radikalität des Todes« gearbeitet. Mit diesem neun Stunden dauernden Film hat der Regisseur nicht nur den Begriff der cineastischen Dokumentation erweitert, sondern auch die Sprache geprägt. Erst nachdem sein Film 1985 zum ersten Mal gezeigt worden war, habe man auch in Europa den amerikanischen Begriff Holocaust durch das hebräische Wort Schoa ersetzt, sagt der 83-Jährige, während er einen passenden Sessel für das Gespräch sucht. »Shoah«, fährt er fort, »ist die beste Mauer gegen das Vergessen. Der Film sollte viel öfter gezeigt werden. Zum Beispiel in einem Land wie Deutschland. Er wurde nicht sehr oft gezeigt. Man wird nie sagen können, dass Shoah ein alter Film ist. Er hat keine Ränder. Er steht in einem besonderen Verhältnis zur Zeit. Meinem Verhältnis.«
Lanzmann sinkt ins weiche Polster eines Sessels, rutscht hin und her, erhebt sich wieder, entscheidet sich für das Sofa. Bittet den Fragensteller, sich rechts von ihm zu platzieren. Skeptisch blickt er auf das Aufnahmegerät. »Ich hoffe, das funktioniert.«
Eine spezielle Pariser Art der Unterhaltung pflege Lanzmann, schrieb vor Jahren ein Journalist der Londoner Zeitung Guardian. Was damit gemeint war, wird in den folgenden 45 Minuten deutlich. Massiv abweisend reagiert Lanzmann an Stellen, wo er sich langweilt. Was er nicht diskutieren will, wischt er einfach weg. Wenn er spricht, macht er lange Pausen, wendet sich ab, schaut in den Raum. Hotelpersonal huscht lautlos vorbei. »Ich fühle mich sehr müde.« Das klingt wie: Ich geruhe um diese Zeit keineswegs zu empfangen. Da hilft kein Espresso, der König mag nicht.
Neuer Anlauf: Ob er sich an den Einmarsch der Deutschen in Frankreich erinnere? »Klar. Aber wenn wir so anfangen, brauchen wir Monate. Hören Sie, ich habe gerade ein Buch von 600 Seiten beendet. In Frankreich wird es im März erscheinen. Hoffentlich auch in Deutschland. Da steht dann alles drin.«
Claude Lanzmann: Geboren 1925 in Paris. Die Großeltern, Juden aus Belorussland, nach Frankreich eingewandert. Der Großvater erhält ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs die französische Staatsbürgerschaft. »Er kämpfte den ganzen Krieg hindurch an der Front. Wurde mehrmals verwundet und ausgezeichnet. Mein Vater meldete sich freiwillig. Mit siebzehn.« Auch er wird verwundet, 1916 an der Somme, in der verlustreichsten Schlacht des Kriegs. Als die Wehrmacht 1940 in Frankreich einmarschiert, schließen sich Vater und Sohn Lanzmann der Résistance an. »Es war die beste Art, sich selbst zu schützen.« Kämpfer sind sie, drei Generationen mit Kriegserfahrung. Wenn man will, kann man das in den harten Zügen des Regisseurs entdecken. »Ich habe wohl ein paar Deutsche umgebracht«, sagt Lanzmann en passant.
Nach dem Krieg, 1947, geht er zum Studium der Philosophie dann ausgerechnet nach Tübingen. In Deutschland. Lanzmann zuckt mit den Achseln. Will das Erstaunen nicht verstehen. »Niemand zu dieser Zeit konnte das volle Ausmaß dessen, was geschehen war, erfassen. Ich selbst habe es erst richtig verstanden, als ich be-gann, an Shoah zu arbeiten.«
Deutschland ist damals für ihn und seine Freunde, darunter Michel Tournier und Gilles Deleuze, nicht in erster Linie das Land der Endlösung, sondern die Heimat der Philosophie. »Wir waren begeistert von Kant, Hegel, Leibniz, Fichte. Und ich wollte auch mal Deutsche in Zivilkleidung sehen.« Der französische Jude, mit der »Médaille de la Résistance« ausgezeichnet, lernt in der süddeutschen Provinz Reiten bei einem ehemaligen Wehrmachtsoffizier und freundet sich mit der Nichte des in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher angeklagten Ex-Ministers Konstantin Freiherr von Neurath an. 1948/49 zieht der inzwischen 23-jährige Lanzmann von Tübingen nach Berlin, arbeitet als Lektor an der Freien Universität und leitet das französische Kulturinstitut.
»In meiner Berliner Zeit unternahm ich einen heimlichen Ausflug in die DDR. Ohne Visum, ohne Erlaubnis. Das war völlig idiotisch. Ich konnte nirgendwo übernachten. Ich schlief in Parks. Ich habe riskiert, ins Gefängnis zu kommen. Und ich schrieb einige Artikel über die DDR. Sie wurden in Le Monde veröffentlicht unter dem Titel ›Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang‹«.
Dann kehrt Lanzmann zurück nach Frankreich, kommt in Kontakt mit Jean- Paul Sartre und Simone de Beauvoir, deren Geliebter er wird. Er liest Sartres Betrachtungen zur Judenfrage. Sie bestimmen sein Verhältnis zum Judentum bis heute. Lanzmann ist ohne Verbindung zu jüdischer Kultur, Religion und Tradition aufgewachsen. »Sartres Buch half mir, besser zu atmen. Aber Sartre wusste nichts von Israel. Und mir ging es damals genauso.« 1952 besucht Lanzmann zum ersten Mal den jüdischen Staat. »Weil ich glaubte, ich könnte dort so eine Geschichte machen wie in der DDR. Aber Israel löste sehr persönliche Fragen aus. Es war ein Schock für mich. Ich entdeckte die jüdische Religion, das spezifisch Jüdische, die Welt der Vergangenheit und der Tradition. Das war sehr intim. Und ich entschied, darüber nicht in einer Zeitung zu schreiben. Als ich Sartre davon erzählte, sagte er: ›Schreib ein Buch!‹ Das schien mir eine großartige Idee zu sein. Nach circa 100 Seiten musste ich aufhören. Ich konnte mir auf meinem damaligen Niveau meine Fragen nicht beantworten. Ich brauchte Zeit. Zeit zu wachsen. Zwanzig Jahre später wurde dieses abgetriebene Buch zu meinem ersten Film: Pourquoi Israel. Ich konnte ihn sehr zügig drehen, denn ich wusste genau, was ich zeigen wollte. Das sind die Wege der Schöpfung – niemals normal.«
Nach seinem ersten Besuch kehrt Lanzmann immer wieder nach Israel zurück. Hat das seinen Blick auf das Land verändert? »Ich habe dieses Land geliebt. Heute liebe ich es noch mehr. Vermutlich, weil ich ein alter Franzose bin, habe ich keine komplizierte Beziehung zu Israel.«
»Viele Franzosen kaufen in den letzten Jahren Häuser in Israel. Wollen Sie dort nicht leben?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht.« Pause. »Es ist nicht eines meiner vorrangigen Bedürfnisse.« Pause. »Natürlich gibt es da eine Verbindung. Würde Israel vernichtet, wäre das ein persönliches Desaster. Das war immer schon so. Das hat sich nicht geändert. Okay?«
Nach Pourquoi Israel und Shoah dreht Claude Lanzmann von 1991 bis 1994 seinen dritten Film: Tsahal. Porträtiert werden dort über fünf Stunden hinweg Israels Armee und ihre Kriege. Auch der heutige Verteidigungsminister Ehud Barak, damals Generalstabschef, tritt auf. »Im vergangenen März habe ich noch einmal ein langes Interview mit ihm gemacht. Ein prophetisches Interview. Alles, was seitdem geschehen ist, hat er vorausgesehen. Er ist ein sehr heller Kopf, sehr intelligent«, lobt Lanzmann den Chef der Arbeitspartei.
»Hat sich Israels Armee in den Jahrzehnten ihres Bestehens verändert?«
»Wahrscheinlich.«
»Inwiefern?«
»Kann ich nicht genau sagen, denn ich kenne die Armee nicht mehr.«
»Was glauben Sie?«
»Sie reagiert empfindlicher auf Verlus-te. Das ist der wahre Grund, warum sie so massiv vorgeht. Sie will keine Leute verlieren. Jüdisches Leben ist in bestimmter Hinsicht wertvoller als je zuvor. Barak ist sich sehr klar darüber.«
Ein Wort zur aktuellen Situation? Lanzmann atmet tief durch. Was denkt er über den Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit im Gasakrieg? »Ohne Bedeutung. Was wäre denn ein stimmiges Verhältnis im Krieg? Ein toter Palästinenser, ein toter Israeli? Zwei tote Palästinenser, zwei tote Israelis? Nein, so geht das nicht. Im Augenblick sind wir in einem Zustand kompletten Wahnsinns. Man will losschlagen und sofort muss man die sogenannte humanitäre Hilfe auf den Weg bringen.«
Ist ein Frieden mit der Hamas überhaupt denkbar? »Die wollen keinen Frieden. Auch nicht zwei Staaten. Sie haben nur das Ziel, Israel auszuradieren. Sie verschwenden keinen Gedanken an Menschenleben. Genau das Gegenteil der Israelis. Der Hamas ist das Schicksal des Volkes gleichgültig. Während sie schreien, Israelis seien Kindermörder, benutzen sie ihre Kinder als Kamikaze.« Fatah-Chef Mahmud Abbas hingegen billigt Lanzmann redliche Absichten zu. »Zwei Staaten wären eine gute Sache. Aber mir erscheint es fast unmöglich. Denn es gibt Fragen, die sich schwer klären lassen. Ich will das Problem nicht diskutieren. Es interessiert mich nicht so sehr.«
Dann gibt König Claude zu verstehen, dass es ihm nun wirklich reicht mit dem Gespräch. Er schweigt, blickt ins Leere. Eine letzte Frage an einen großen alten Mann: »Was ist das Wichtigste, was Sie in ihrem Leben getan haben?« »Sie sollten mein Buch lesen. Mein Buch ist sehr wichtig. Ein dickes Buch. 600 Seiten.«
Ist das Buch wichtiger als Shoah? »Ist auch wichtig. Ich denke, dass Shoah die Wegmarke in meinem Leben ist. Meiner Ansicht nach ist es interessanter, Shoah zu zeigen, als für einen Tag nach Auschwitz zu fahren, was heutzutage so eine Mode geworden ist. Morgens von Paris aus loszufliegen, abends wiederzukommen.«
Und Pourquoi Israel? »Auch Pourquoi Israel ist wichtig. Ich liebe diesen Film.«
Liebe. Vielleicht hätten wir mehr über Liebe reden sollen. Oder über die Kollegin vom Hörfunk, die nebenan wartet. Der war ein Interview nachts im Hotelzimmer angeboten worden. Sie hatte freundlich dankend abgelehnt. Zu viel der Ehre. Nun kommt sie gerade. Claude Lanzmann steht auf. Deutet an, dass er Hunger hat. Dass er erwartet, eingeladen zu werden. Dann könne man mal weitersehen. Um ihr Interview zu retten, nickt die Journalistin und folgt dem König zum Lunch. Was für ein Abgang!