von Christine Schmitt
Kürzlich reiste Ilya Rivin wieder einmal in seine alte Heimatstadt Minsk. Doch diesmal war sein Besuch ganz anders als die fünf Mal davor, denn seine Frau Anna, mit der er seit einem Jahr verheiratet ist, begleitete ihn zum ersten Mal. »Ich zeigte ihr, wo ich geboren bin, zur Schule ging und wo ich wohnte«, sagt der 26jährige. Daß Anna seine Geburtsstadt kennenlernt, bedeutete ihm sehr viel – schließlich gibt es noch heute Momente in seinem Leben, in denen er voller Sehnsucht an seine Heimat denkt. »Aber ich fühle mich sehr wohl in Düsseldorf«, relativiert er. In Minsk leben noch zahlreiche seiner Freunde – und die fehlen ihm in der neuen Heimat. »Es sind meine besten Freunde geblieben, mit manchen bin ich immerhin groß- geworden«, sagt er. Nur wenige hat er aus den Augen verloren, und mit etlichen schreibt er regelmäßig E-Mails und besucht sie einmal im Jahr. In Minsk steht auch noch die Bibliothek seiner Eltern. Allerdings sind die zahlreichen Bücher auf mehrere Freunde verteilt.
»Ich helfe gerne«, sagt er gutgelaunt und voller Tatendrang. Mal so eben als Dolmetscher einspringen, jemanden vom Bahnhof abholen und durch die Stadt kutschieren – für ihn ist das kein Problem. Immerhin hat er sogar einen Kindersitz in seinem Auto, damit er auch seinen kleinen Neffen regelmäßig hin- und herfahren kann. Viel unterwegs ist er ohnehin, denn der angehende Sozialarbeiter muß sich in seinem letzten Semester sein Studium selbst finanzieren, da er kein BAföG mehr bekommt.
Berlin, Potsdam, Dresden stehen mitunter in einer Woche in seinem Terminkalender, da er Studentengruppen bei Bildungsseminaren des Vereins »Internationale Akademie für Management und Technologie« (INTAMT) begleitet. Manchmal gibt es so viel zu tun und zu besprechen, daß er erst spät nach Hause kommt. »Es gefällt mir aber, unterwegs sein zu können und viel zu sehen«, sagt er.
Ilya Rivin ist Frühaufsteher. Morgens um sieben Uhr klingelt bei ihm der Wecker. Ziemlich rasch schaltet er dann seinen Computer an und beginnt zu arbeiten, denn seine Diplomarbeit in Sozialarbeit steht kurz vor der Fertigstellung. Das Thema: »Familien mit behinderten Kindern aus der Sowjetunion«. Zuerst wußte er nicht so recht, über welches Thema er die Arbeit schreiben sollte. Doch dann suchte sein Professor Studenten, die jüdischen behinderten Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und deren Angehörigen beim Aufbau einer Selbsthilfegruppe helfen. Ilya schlief eine Nacht darüber und sagte zu.
Das Projekt wurde zusammen mit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) initiiert und auch von »Aktion Mensch« mit unterstützt. »Ich hatte bis dahin überhaupt keine Kontakte zu behinderten Menschen.« Heute sei er manchmal überrascht, wie normal es für ihn geworden ist, mit behinderten Menschen zusammen zu sein. »Komische Gefühle gibt es nicht.«
Mittlerweile hat er sich in das Projekt so weit vertieft, daß er mehrere Treffen in Düsseldorf mit Betroffenen organisierte. Sein stärkster Eindruck: Die behinderten Menschen und deren Angehörige sind unglaublich einsam in Deutschland. Viele wollen ihren behinderten Bruder, ihre Schwester oder ihr Kind nicht allein lassen und könnten somit weder an Sprachkursen noch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. So ein Treffen unter Angehörigen sei für einige die einzige Möglichkeit, aus den eigenen vier Wänden herauszukommen und sich zu unterhalten und auszutauschen.
»Vielleicht werde ich nach Abschluß meines Studiums die Arbeit mit Behinderten noch vertiefen«, sagt der 26jährige. »Oder ich gehe in den Jugendbereich.«
Die Arbeit mit Jugendlichen hat ihm schon in Minsk gut gefallen. Denn nach 1990, als die Religionsausübung in seiner Heimat nicht mehr verboten war, lud er zusammen mit dem heutigen Rabbiner Josh Spinner Jugendliche in einen kleinen Raum neben der Synagoge ein, um mit ihnen zusammen zu lernen. »Zu den Treffen kamen um die 30 Interessierte«, sagt Rivin. Zu den Festen seien es sogar mehr als 100 gewesen, Juden und Nichtjuden.
Ilya Rivin selbst hat viel von seinem Vater gelernt. Der nahm ihn zu Jom Kippur bereits als Fünfjährigen mit in die Synagoge. Mit 13 wurde er Barmizwa. »Mein Papa war ein traditioneller Jude«, meint Ilya. Aber sein Vater starb, als er zehn war.
Schwierigkeiten weil er Jude ist, hatte der junge Mann nie, sagt er. Nur an wenige Momente, in denen Nachbarn schlechtes über ihn und seine Religion sagten, kann er sich erinnern. In der Schule waren noch sechs weitere Juden in seiner Klasse. »Da gab es überhaupt keine Probleme.«
Als es in Weißrußland 1994 zum Regierungswechsel kam, wollte seine Mutter nicht länger dort bleiben. Bis dahin hatte sie als Ingenieurin von morgens sechs bis abends 22 Uhr gearbeitet. Doch nun sah sie keine Hoffnung mehr für ihren jüngsten Sohn, der angefangen hatte, Jura zu studieren. »Sie machte das für mich. Denn in Deutschland sollte es mehr Möglichkeiten geben.« Ilya Rivin muß lachen. »Letztendlich war sie hier schneller integriert als ich, und auch Deutsch hatte sie viel rascher gelernt. Für sie ist Deutschland das Paradies.« Ilyas älterer Bruder lebte bereits in der Bundesrepublik und arbeitete als Autohändler. »So konnte ich ihn häufiger sehen«, sagt der junge Mann. Familie müsse immer zusammen sein, findet er.
Doch der Anfang vor sechs Jahren sei ihm sehr schwer gefallen. Es sei eine schlechte Zeit gewesen. »Ich wurde depressiv.« Während er im Wohnheim die Wände anstarrte, waren seine Gedanken oft bei seinen zurückgelassenen Freunden. Er fühlte sich verlassen. In der ersten Zeit dachte er häufig, es sei besser zurückzugehen nach Minsk.
Doch sein Bruder ermutigte ihn immer wieder, daß es die richtige Entscheidung war und er doch geduldig sein solle. Durch die Sprachkurse fand er schließlich neue Freunde. Und es wurde ihm immer mehr klar, daß er mit dem Jura-Studium nicht weitermachen wollte – er wechselte zur Sozialarbeit.
So richtig gut gefiel es ihm in Düsseldorf erst, als er Anna kennenlernte. »Wir sahen uns das erste Mal bei einem Studentenstreik.« Weshalb gestreikt wurde – daran kann er sich nicht mehr erinnern. »Ich wollte nur mal die Freiheit spüren, streiken zu können«, sagt er und lacht. Das war in seinem zweiten Semester. Mittlerweile leben Ilya und Anna, die aus der Ukraine stammt und Volkswirtschaftslehre in Köln studiert, in einer kleinen Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung zusammen. »Für russische Verhältnisse habe ich spät geheiratet, für deutsche früh«, meint er schmunzelnd.
Jetzt hofft er, ein gutes Examen zu machen, eine spannende Arbeitsstelle zu finden, weiter anderen Menschen helfen zu können – und die Bibliothek seiner Eltern nach Deutschland zu holen. »Aber wahrscheinlich ist sie zu groß«, sagt er. »Da bräuchten wir für die Bücherregale eine ganze Wand.«