von Tobias Ertmer
Der achte Tag im Leben eines jüdischen Jungen ist ein ganz besonderer Tag. »Es ist der beste Moment für die Beschneidung«, sagt Michael Rosenkranz. Der promovierte Arzt aus Gelsenkirchen ist seit 20 Jahren als Mohel zwischen Hannover und Wuppertal im Einsatz.
Das war vor 15 Jahren noch ganz anders. Seit Beginn der jüdischen Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion erlebt die rituelle Beschneidung, die Brit Mila, eine wahre Renaissance in Deutschland. »Durch die Öffnung Europas nach Osten und die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen sind die Gemeinden ständig gewachsen«, erklärt Rosenkranz. Damals waren es vor allem Erwachsene und Jugendliche aus den Reihen der jüdischen Kontingentflüchtlinge, die sich nachträglich beschneiden ließen. Im vergangenen Jahr habe er erstmalig mehr Säuglinge beschnitten, berichtet der Mediziner.
Die Brit Mila ist als Zeichen für den Bund mit Gott eines der wichtigsten Ereignisse im Leben eines jüdischen Mannes und genießt höchsten Stellenwert. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass Michael Rosenkranz nur einer von ganz wenigen Mohalim in Deutschland ist. »Ich bin durch die Geburt meines ersten Sohnes vor etwa 20 Jahren dazu gekommen«, erzählt der Facharzt für Allgemeinmedizin. In seiner Ausbildung durfte er seinem türkischen Oberarzt häufig bei Beschneidungen assistieren und lernte das Handwerk des Mohel auf diese Weise ganz praktisch. »Und nachdem ich einem anderen Mohel noch ein paar Mal über die Schulter geschaut habe, war mir der Ablauf klar«, sagt Rosenkranz.
Seitdem ist der Arzt durchschnittlich einmal pro Woche als Mohel im Einsatz, entweder in seiner Praxis – hier nimmt er den Eingriff vor allem bei Erwachsenen und Jugendlichen vor – oder in den Gemeinden und bei Familien zu Hause bei Neugeborenen. »Ich werde von einem Familienmitglied angerufen und mache mit ihm einen festen Termin aus«, erzählt der 58-Jährige. Der Mohel sagt schon am Telefon, welche Vorbereitungen die Familie treffen muss: Dazu gehört ein Stuhl ohne Armlehnen für den Paten, der den Jungen in seinen Armen halten wird. Ein weiterer Stuhl, festlich geschmückt, bleibt dagegen frei – für den Propheten Elias, der als Zeuge die Beschneidung mitverfolgen soll. Außerdem wichtig: ein kleiner Tisch für die Instrumente des Mohel, ein Abfalleimer, Kopfbedeckungen für die männlichen Anwesenden sowie ein koscherer Wein.
Am Beschneidungstag führt der Mohel zunächst ein ausführliches Gespräch mit den Eltern. »Das dauert etwa eine Stunde. Ich nutze dabei die Gelegenheit, mit Ängsten und Sorgen aufzuräumen und alle Fragen zu beantworten«, sagt Rosenkranz. Schließlich übertrage sich die Nervosität der Eltern oft aufs Kind. Mutter und Vater sollten also versuchen, möglichst viel Ruhe auszustrahlen.
Anschließend folgt das eigentliche Ritual. Der zu beschneidende Junge sollte genau acht Tage alt sein. »Dann hat er einerseits die Geburt bereits verarbeitet, die Wundheilung funktioniert und andererseits ist das Schmerzempfinden noch nicht so ausgeprägt«, weiß Michael Rosenkranz. Wenn das Baby hereingetragen wird, sprechen die Anwesenden die Worte: »Willkommen ist der, der da kommt«. Das Kind wird von seinem Paten an den Beinen gehalten, der Mohel kniet vor den beiden. Während der Beschneidung, die nur wenige Minuten dauert, legt der Vater des Kindes seine Hand auf die Schulter des Mohel. »Denn eigentlich ist es seine Aufgabe, ich gelte nur als seine rechte Hand«, erklärt Rosenkranz. Zuvor erklärt sich der Vater mit einem weiteren Spruch bereit für die Zeremonie. Nach einem Segensspruch, mit der der Prophet Elias eingeladen wird, folgt dann der eigentliche Akt der Beschneidung: Die Vorhaut wird in ein geschlitztes Metallblatt eingeklemmt, anschließend mit einem scharfen Einmal-Skalpell abgetrennt. »Dann löse ich den Rest der Vorhaut und klappe sie nach hinten, damit die Eichel freiliegt«, erklärt Rosenkranz. Nach dem Absaugen des Blutes mit einem Glasröhrchen wird ein Verband angelegt und ein weiterer Segen gesprochen.
Mit dem Wein, von dem das Kind einige Tropfen auf die Lippen geträufelt bekommt, und der Vergabe eines jüdischen Namens wird die Zeremonie abgeschlossen. »Danach wird das Kind meistens von der Mutter beruhigt oder gestillt, während die anderen langsam mit dem gemeinsamen Essen beginnen.« Denn auch das gehöre dazu, betont Rosenkranz. »Beim gemeinsamen Mahl fällt die Anspannung endgültig ab, die Familie ist glücklich wegen der überstandenen Brit Mila.«
Der Mohel ist auch nach dem Ritual noch für die Familie da. »Manchmal machen sich die Eltern Sorgen, weil die Wunde etwas nachblutet. Das ist aber kein Problem.« In all den Jahren hat es bei dem Gelsenkirchener Arzt noch keine ernsthaften Komplikationen gegeben. Der achte Tag ist eben auch für Rosenkranz immer wieder ein ganz besonderer Tag.