geschichte
Am Abgrund
Breschnews Geheimrede zum Sechstagekrieg
von Stefan Meining
Die Waffen in Nahost schwiegen seit zehn Tagen, als sich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu seinem Juniplenum versammelte. Bis heute weithin unbekannt: Hinter verschlossenen Türen hielt der damalige KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew in schonungsloser Offenheit eine strategische Grundsatzrede zu den Ursachen und Folgen des Junikrieges in Nahost.
Eine Kopie dieser Rede erhielt wenig später und streng vertraulich der Genosse Walter Ulbricht in der DDR. Das Manuskript mit 63 eng beschriebenen Schreibmaschinenseiten verschwand in den Wendewirren nicht im Reißwolf, sondern liegt heute wohlbewahrt im Berliner Bundesarchiv. Breschnews Geheimrede kann ohne Übertreibung als ein sensationelles Dokument der Zeitgeschichte bezeichnet werden. Die Ausführungen Breschnews beschreiben die dramatischen Wochen, Tage und Stunden vor dem Ausbruch des Juni-Krieges. Die Rede offenbart minutiös das Chaos, die Lügen und Selbstüberschätzungen der arabischen Führer eines kurzen Krieges, der die Landkarte des Nahen Ostens von Grund auf ändern sollte.
Laut den Worten Breschnews war die Sowjetunion fest entschlossen, auf arabischer Seite in das Kriegsgeschehen einzugreifen. Ausgangspunkt dieser bis heute weithin unbekannten Ereignisse ist der Zusammenbruch der syrisch-israelischen Front. Am 10. Juni fällt der Hauptstützpunkt der Syrer auf dem Golan, El-Kuneitra, in israelische Hände. Damit befindet sich plötzlich auch das nahe Damaskus in höchster Gefahr. Die verzweifelte syrische Regierung bittet die Sowjetunion »beliebige Schritte zu unternehmen, und zwar in den nächsten zwei bis drei Stunden«.
Die sowjetische Führung reagiert sofort. Einem Verband sowjetischer Kriegsschiffe wird der Befehl erteilt, Kurs auf die Küste Syriens zu nehmen. Gleichzeitig wird Israel der Abbruch der diplomatischen Beziehungen erklärt. Sollten nicht sofort die Waffen ruhen, würde die »Sowjetunion gemeinsam mit den anderen friedliebenden Staaten gegenüber Israel Sanktionen mit allen sich daraus ergebenden Folgen« verhängen.
Gleichzeitig übermittelt die sowjetische Führung an US-Präsident Johnson eine an Deutlichkeit nicht zu überbietende Botschaft. Sollten die Kriegshandlungen nicht in den nächsten Stunden beendet werden, sähe sich die Sowjetunion zu selbstständigen Handlungen gezwungen. Diese Handlungen, so heißt es in der Breschnew-Rede, »können einen Zusammenstoß zwischen uns bewirken und zu einer großen Katastrophe führen«.
Die USA erkannten augenblicklich den Ernst der Lage. Nach nur 75 Minuten gab Johnson Entwarnung. Israel sei bereit, das Feuer einzustellen. Befriedigt stellte Breschnew vor dem ZK fest, »dass unsere Warnungen an die Adresse der USA sowie Israels ihre Wirkung nicht verfehlt haben«. Israel stellt noch am Abend des 10. Juni die Kriegshandlungen ein. Das prosowjetische syrische Regime bleibt am Ruder.
Allem Anschein nach fürchtete die UdSSR einen westdeutschen »Blitzkrieg« gegen die DDR, wie ihn Israel gerade vorexerziert hatte. Der israelische Sieg in Nahost würde auch die Sicherheit der DDR und damit die Interessen der Sowjetunion bedrohen. Deshalb, so Breschnew, »müssen wir die Deutsche Demokratische Republik vor jeglichen Anschlägen schützen«. Wohl auch aus diesem Grund erwog die UdSSR am 10. Juni, in den Krieg einzutreten.