von Franklin Foer
Der Antisemitismus heute ist etwas Merkwürdiges und Neues – gesellschaftlich nicht ganz akzeptabel, aber auch nicht völlig unakzeptabel. Der vielleicht merkwürdigste Fall dieser Haltung gegenüber Juden ist Tottenham Hotspur. Die Fans des im Norden Londons beheimateten Clubs nennen sich selbst »Yids« oder »Yiddoes«. In ihrem nuschelnden Cockney-Akzent hört sich das wie eine wüste Beschimpfung an. Und es stimmt ja auch: Mit dem Namen verbinden sich keine freundlichen Assoziationen. Als die Horden des englischen Faschisten Oswald Mosley 1936 durch Londons jüdisches East End marschierten, da brüllten sie: »Down with the Yids.« Quer durch die Geschichte haben Judenhasser diesen Ausdruck in diesem Sinn benutzt. Tottenham-Fans tragen jedoch den Spitznamen stolz als Ehrennamen.
Wenn ein Tottenham-Spieler einen genialen Paß spielt oder einen Distanzschuß abfeuert, bejubeln ihn die Tottenham-Fans mit dem Schlachtruf »Yiddo, Yiddo«. Wenn sie ihre Mannschaft in kritischen Situationen anfeuern wollen, singen sie: »Who, who, who let the Yiddoes out?« Sie feiern ihre Lieblingsspieler als »Juden«, obwohl keiner der Spieler auch nur im Entferntesten den Anforderungen der Halacha genügt. Als (der heutige deutsche Bundestrainer, d. Red.) Jürgen Klinsmann 1994 zu Tottenham kam, zollten sie ihm Anerkennung mit dem Song: »Chim-chiminee, Chim-chiminee, Chim-chim-churoo/Jürgen was a German, but now he’s a Jew«.
Außenstehenden bleibt der logische Zusammenhang zwischen Tottenham und den Juden verborgen. Allerdings scheint das auch für die Tottenham-Fans selbst zu gelten – gedankenlos zelebrieren sie einen überlieferten Brauch. Soweit mir bekannt, ist der historische Zusammenhang folgender: Zwar gab es in vielen Stadtteilen Londons Juden, doch in Stamford Hill, einem Viertel nahe des Tottenham-Vereinsgeländes, lebten viele chassidische Juden, und die fielen auf. Sie waren schwarz gekleidet, traditionsbewußt, nicht assimiliert. Sie boten eine breite Angriffsfläche für den Haß von Tottenhams Gegnern. Die Fans fast aller Clubs drangsalierten Tottenham wegen der Juden in seiner Nachbarschaft, die Schlimmsten waren allerdings die des Lokalrivalen Chelsea. Obwohl der Verein fast genauso viele jüdische Anhänger hatte wie Tottenham, zeichneten seine Fans für einige außerordentlich haßerfüllte Lieder verantwortlich. In einem kamen die Zeilen vor: »Hitler’s gonna gas’em again/we can’t stop them/the Yids from Tottenham«; in einem anderen »Gas a Jew, Jew, Jew,/out him in the oven,/cook him through.«
Wie reagiert man auf solche Abscheulichkeiten? Tottenhams Methode bestand darin, das Gegröle entweder zu ignorieren oder mit eigenen beleidigenden Gesängen zu antworten. Keine der beide Methoden nutzte etwas. Sie verfielen schließlich auf den klassischen Taschenspielerkniff, die Beleidigungen für sich selbst als Ehrenbezeugung zu reklamieren. Das Schlüsselerlebnis, das zur Änderung der Taktik führte, war ein Auswärtsspiel bei Manchester City Anfang der 1980er Jahre. Die City-Fans bedachten sie mit folgendem Lied: »We’ll be running around Tottenham with our pricks, hanging out tonight/Singing I’ve got a foreskin, I’ve got a foreskin, I’ve got a foreskin, and you ain’t.« Anstatt den Hieb untätig hinzunehmen, sammelten sich Tottenhams jüdische Anhänger, ließen geschlossen die Hosen herunter und schwenkten trotzig ihre beschnittene Männlichkeit hin und her. Der Witz der Antwort machte eine Retourkutsche unmöglich, die Tottenham-Fans hatten das Thema damit erledigt. Seltsamerweise waren es die Hooligans, also die zur äußersten Rechten tendierende Gruppe unter den Fans, die die jüdische Identität als erste annahmen. Sie nannten ihren Schlägertrupp »The Yid Army« und machten die israelische Flagge zu ihrer Standarte. Nach siegreichen Schlachten gegen rivalisierende Banden kosteten sie ihren Triumph aus, indem sie um die Besiegten herumtanzten und »Yiddo, Yiddo” skandierten. Die Annahme, daß Hooligans nur eine Randerscheinung unter den Fans waren, ist falsch. Bis in die 1990er Jahre wurden sie von vielen normalen Fans als Avantgarde, als Trendsetter betrachtet, die für ihre besessene Hingabe an den Verein Respekt verdienten. Und so griff Tottenhams jüdische Identität schnell vom harten Kern auf den Durchschnittsfan über und wurde Teil der Vereinskultur. Vor den Spielen verwandeln fliegende Händler die zum Stadion führenden Straßen in einen Verkaufstresen, an dem sie T-Shirts mit Aufdrucken wie »Yid4ever« verkaufen.
Franklin Foer, jüngerer Bruder des Bestsellerautors Jonathan S. Foer, ist Journalist und lebt in Washington, D.C. Der Text ist ein Auszug aus seinem Buch »Wie man mit Fußball die Welt erklärt«, (Heyne, München 2006, 272 S., 18,95€). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.